Kreatives Schreiben

Vorgeschichte von Isa

Ich schlug die Augen auf, realisierte kurz wo ich war, brauchte dafür aber nicht sehr lang. Das selbe öde zimmer, das selbe öde leben, die selben sich streitenden Eltern in der unteren Etage unsres viel zu großen, viel zu kühlen Hauses in der Vorstadt Kölns. Trotzig ging ich an den, von meiner Mutter höchstpersönlich ausgesuchten, Designer Klamotten vorbei und griff in meinen Schrank um die immer gleiche camouflagefarbende Hose und ein weißes, labbriges T-shirt heraus zu ziehen. Das dabei die anderen schicken und teuren Klamotten aus dem Schrank auf den Boden fielen, störte mich nicht im geringsten, ich mochte sie eh nicht.
Ich schlich die Treppe runter um möglichst unbemerkt den Streit meiner Eltern mit verfolgen zu können. ''WIR KÖNNEN ES IHR NICHT SAGEN, SIE BENIMMT SICH EH SCHON VOLLKOMMEN DANEBEN.. DAS KÖNNTE WER WEIß WAS AUSLÖSEN!!“ schrie meine wie immer angeschwibbste Mutter meinen Vater an. Ich war mittlerweile am Ende der Treppe angekommen und konnte die beiden durch die Gläserne Küchentür hindurch beobachten. Mein Vater wirkte so an teilnahmslos wie immer. '' Ganz im Ernst, was geht es mich an was du mit der Göre anstellst. Sag es ihr oder lass es sein. Ich hatte es mir anders vorgestellt ein Kind zu adoptieren, du selbst sagtest du übernimmst die Erziehung und jetzt sieh sie dir an, völlig verwahrlost und aufmüpfig!“ Er schlug eine etwas abgewetzte und vergilbte Mappe auf den Küchentisch und verließ mit strengen, schnellen Schritten den Raum. Ich hatte nicht mal Zeit schockiert zu sein, es ging mir nur darum mich so schnell wie möglich zu verstecken. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken nur um ein einziges Wort... Adoptiert... Ich war Adoptiert. Mir wurde mulmig, schlecht, heiß, kalt, alles auf einmal. Auch wenn ich meine spießigen Eltern und ihr geheucheltes Leben nicht mehr ertragen konnte, zog es mir trotzdem den Boden unter den Füßen weg.
Meine Mutter verließ taumelt die Küche, kurz danach hörte ich eine Zimmertür die aggressiv zugeschlagen wurde. Benommen ging ich in die Küche, ich musste mir diese Mappe angucken, ich funktionierte wie ferngesteuert. Doch auch in der Mappe fand ich keine Anhaltspunkte über die Familie der ich eigentlich angehörte. Ich fand nur die Adresse des Heimes in dem ich als Säugling abgegeben wurde. Es ist in Prag. Ich wurde sauer und mit der Wut kam relativ schnell der Beschluss meine angeblichen Eltern und das Leben das ich so hasste hinter mir zu lassen. Ich musste raus finden ob es da draußen noch etwas oder jemanden gab bei dem ich mich wohler und verstandener fühlte als jetzt und hier.

Ich verließ das Haus, ich packte nicht mal Sachen für meine beginnende Reise, wie ferngesteuert. Ich ging die Straße entlang, wie ferngesteuert. Ich ignorierte die mich grüßenden Nachbarn, wie ferngesteuert. Ich konnte nicht wirklich sagen wie ich an mein Ziel kommen sollte, ich hoffte nur das es dort besser war als hier, alles wäre besser als hier.

Von Hanna Dräwe

Das Treffen
Ich saß in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und tippte nun schon seit Stunden am Computer, durchforstete Mahnungen und Briefe von meinen Mandanten und trank dabei meinen Tee. Dieser Tag verging dabei wie jeder andere. Es war jetzt schon 25 Jahre vergangen, seitdem ich mein Studium beendet hatte und Rechtsanwalt geworden war. Seit meiner Scheidung war sowieso jeder Tag gleich. Egal ob Wochenende oder Arbeitstag . Alle Tage waren gleich: Ich blieb immer im Haus, kochte möglichst gesundes Essen, arbeitete vormittags und guckte abends ein paar Serien oder Fußball im Fernsehen. Als ich einmal ein paar Tage Urlaub nahm, wusste ich gar nichts mit den Vormittagen anzufangen, deshalb versuchte ich in einer Bar neue Leute kennenzulernen. Allerdings roch es da immer nach Alkohol. Ich konnte den Geruch von Alkohol noch nie so richtig leiden, aber seitdem meine Mutter vor fast fünfzig Jahren an einer Alkoholvergiftung gestorben war, habe ich mich immer noch unwohler bei diesem Geruch gefühlt und mir wurde jedes Mal sofort übel. So ist es immer noch und deshalb habe ich den Versuch in der Bar sofort wieder aufgegeben. Ich habe auch im Internet versucht Freunde zu finden, aber auch das hat nie funktioniert. Wenn ich ehrlich sein soll habe ich eigentlich überhaupt keine Freunde. Ich verstehe mich zwar ganz gut mit meinem Nachbarn Dieter und wir gucken uns des Öfteren mal ein Fußballspiel zusammen an, aber als wirklichen Freund würde ich ihn nicht bezeichnen. Das war natürlich nicht immer so. Als ich noch mit Tatjana verheiratet war, hatten wir viele Freunde, mit denen wir uns gut verstanden haben. Die haben aber fast alle irgendwann Kinder bekommen und Tatjana war von dieser Kinderidee ganz besessen und hat mir unaufhörlich erzählt, wie schön es doch wäre, eigene Kinder zu haben und ob es für uns nicht auch langsam Zeit wäre über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken. Daran ist unsere Ehe schlussendlich kaputt gegangen und ich hatte weder Kontakt zu meiner Frau, noch zu unseren gemeinsamen Freunden, die, wie sich herausgestellt hat, eher Tatjanas Freunde waren, anstatt meine. Unsere Ehe ist natürlich nicht nur in die Brüche gegangen, weil ich keine Kinder wollte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich nicht vielleicht doch welche wollte. Ich mag Kinder sehr. Vielleicht hatte ich einfach zu große Angst, dass ich ein schlechter Vater sein könnte. Vielleicht hatte ich einfach nur Angst, dass ich so werden könnte wie mein Vater. Wenn ich mich daran erinnere, wie er mich geschlagen und verprügelt hat, wenn ihm etwas nicht gepasst hat, läuft mir heute noch ein Schauer über den Rücken. Vor allem die Jahre nach dem Tod meiner Mutter waren besonders schlimm. Als ich 17 war, habe ich mich ans Jugendamt wenden müssen, weil ich dachte, er würde mich noch eines Tages umbringen, wenn er wütend von der Arbeit wiederkommt. Nachdem ich eine Wohnung vom Amt bekommen habe, hatte ich nie wieder Kontakt zu meinem Vater. Als er ins Heim gekommen ist, musste ich zwar einige Kosten für seine Pflege übernehmen, aber ich wollte ihn nicht besuchen, da ich mir geschworen habe, diesen Mann nie wieder zu sehen. Und dabei ist es auch geblieben. Ich war nicht einmal traurig, als ich vor einem Jahr die Nachricht von seinem Tod bekommen habe. Das einzige, was ich dabei empfunden habe, war Freude darüber, dass ich die Pflegekosten nicht mehr zahlen muss. Ich kann natürlich nicht alles auf meine verkorkste Kindheit schieben. Meine Kindheit war ja auch nicht nur schlimm, aber ich glaube schon, dass das der Grund ist, der mich davon abgehalten hat, selbst Verantwortung für Kinder zu übernehmen. Jetzt ist es jedenfalls zu spät. Aber die Kinderfrage war auch nicht der einzige Grund, warum Tatjana mich verlassen hat. Sie hat ständig gesagt, dass ich nur mit meiner Arbeit verheiratet wäre und ich mich gar nicht für andere Dinge interessieren würde. Und das stimmte auch. Ich habe nie verstanden, wie sie nach einem langen Arbeitstag noch ins Fitnessstudio gehen konnte und sich abends noch mit Freunden zum Cocktail trinken treffen konnte. Ich war wirklich noch nie davon begeistert, irgendwohin zu gehen und mich mit anderen Leuten zum Sport, zu Partys oder auch nur zum Essen zu verabreden. Die gemeinsame Zeit mit Tatjana habe ich immer genossen. Wir haben oft im Wohnzimmer gesessen und Spiele gespielt. Brettspiele, Kartenspiele oder Rollenspiele. Wir haben auch irgendwann angefangen, unsere eigenen Spiele zu erfinden. Die Abende mit ihr waren immer wundervoll. Wir haben viel geredet und viel gelacht. Immer wenn sie gelacht hat, hat mich das so glücklich gemacht. Wenn Tatjana das Gefühl gehabt hat, dass ich sie nicht lieben würde, lag sie falsch. Ich habe sie immer geliebt. Schon damals in der Schule war ich in sie verliebt und bin es jetzt auch noch. Sie ist immer für mich da gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter, in meinem Studium, als ich wegen eines Herzinfarkts im Krankenhaus lag und an jedem anderen Tag war sie auch für mich da. Meine Frau bedeutete mir immer alles und ich habe sie über alles geliebt. Aber nur sie. Nicht ihren Sport, nicht ihre Freunde oder ihre Partys. Ich wollte sie am liebsten ganz für mich allein haben und das war das Problem. Sie hat mich jedenfalls verlassen und jetzt habe ich niemanden mehr. Ich habe sogar überlegt, ob ich mir eine Katze kaufen soll, um nicht ganz so allein zu sein, aber ich befürchtete, dass das meinem guten Image als Anwalt schaden könnte. Wenn so etwas wie „Staranwalt Klingeberg wird von Ehefrau verlassen und redet mit Katze“ in der Zeitung stünde, würde ich mit Sicherheit nicht mehr so viele Aufträge bekommen. Da saß ich also. An einem ganz normalen Tag. Ein einsamer alter Rechtsanwalt, kurz vor der Rente. Ohne Frau, ohne Freunde, ganz allein mit meiner Arbeit. Ich wollte gerade mit der Arbeit aufhören, denn Deutschland spielte an dem Abend und Dieter wollte vorbei kommen und sich mit mir das Spiel ansehen. Ich wollte nur noch den letzten Brief von meinem Mandanten lesen und abheften, aber ich konnte ihn nirgends finden. Ich suchte in allen Schubladen und fand ihn schließlich auch. Unter dem Brief lag jedoch noch ein Umschlag, den ich keinem Fall zuordnen konnte. Weil ich noch mehr Arbeit vermutete, legte ich ihn auf den Schreibtisch um ihn gleich am nächsten Tag zu bearbeiten. Noch bevor ich ihn mir genauer anschauen konnte, klingelte es auch schon an der Tür. Das war natürlich Dieter, der sich, wie zu jedem Spiel, ein paar Flaschen Bier mitgebracht hatte. Der Abend verlief so wie immer, wenn wir Fußball guckten: Wir hatten zwar keine Ahnung von Fußball, schrien aber das ganze Spiel über in den Fernseher, was die Spieler für Fehler machten, sprangen auf, wenn es spannend wurde und fielen uns jubelnd in die Arme, wenn ein Tor viel. Nach dem Spiel redeten wir immer noch ein bisschen über Politik. Über den Krieg im Osten und die angespannte Lage wegen der Ölkrise. Als Dieter sein letztes Bier ausgetrunken hatte, sagte er, dass ich mich nicht beschweren solle und das ich damit glücklich sein soll, was ich habe und das es anderen Menschen noch viel schlechter geht und so. Dann verabschiedete er sich und ging. Es war mittlerweile schon spät und ich räumte nur noch ein bisschen auf und ging dann ins Bett. Ich konnte aber noch nicht sofort schlafen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, was Dieter gesagt hatte. Falls ich mich zu oft über mein Leben beschwerte, fiel es mir jedenfalls nicht auf. Klar ging es anderen Menschen schlechter, aber warum sollte mich das glücklicher machen? Und ich würde sehr gerne mit dem glücklich sein, was ich habe, aber Glücklichsein kann man sich ja nicht aussuchen. Entweder man ist es oder nicht. Und ich bin es im Moment nicht. Ich würde nicht sagen, dass ich vollkommen unglücklich bin, aber es gibt so viele Dinge, die ich in meinem Leben erreichen wollte und die ich immer machen wollte, die ich niemals gemacht habe. Ich bin zwar ein erfolgreicher Anwalt geworden, aber irgendwie fühlt es sich so an, als hätte ich nie was erreicht, als hätte ich nie wirklich Spaß gehabt. Die ganzen Reisen und Abenteuer, die ich immer machen wollte, haben nie stattgefunden und dass ist es, was mich unglücklich macht. Außerdem war ich ständig ganz allein. Das stimmte mich auch nicht gerade fröhlicher. Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen und habe am nächsten Morgen auch gleich zwei Stunden länger geschlafen. Da ich zu Hause arbeiten konnte, stellte ich mir auch nie einen Wecker und hätte somit fast meinen Termin verschlafen, den ich an diesem Tag hatte. Nach einem schnellen Frühstück bin ich sofort zu dem Mandanten gefahren, mit dem ich ein Beratungsgespräch hatte. Das Gespräch verlief wie geplant und ich konnte schnell wieder nach Hause fahren und mich wieder der Arbeit an meinem Schreibtisch zuwenden. Ich machte das Fenster auf, um die heiße Sommerluft herein zu lassen und setzte mich. In der Mitte des Schreibtisches lag noch der Brief, den ich am Tag zuvor dort hin gelegt hatte. Es war ein alter Brief, der schon zerknickt und staubig war und ich hoffte, dass sich darin nichts Wichtiges befand, das ich vergessen haben könnte. Der Absender sagte mir jedenfalls nichts.„Anselm Wail“. Ein komischer Name, der mir allerdings irgendwie bekannt vorkam. Als ich den Brief öffnen wollte, bemerkte ich, dass er bereits offen war. Und da viel es mir wieder ein. Anselm Wail, vom hohen Berg! Das war der Brief, den ich in meiner Jugend von Isa bekommen hatte. Ich nahm ihn raus und las den Brief einige Male durch und erinnerte mich daran, wie ich mit Tschik das Auto geklaut hatte und sie auf dem Müllberg kennen gelernt hatte. Nach all dem seriösen und formellen Kram, den ich normalerweise den ganzen Tag lang ausfüllen und schreiben musste, gefiel mir sogar die Anrede „Schwachkopf“, die sie in dem Brief für mich verwendete. Ich dachte eine ganze Weile über unser Abenteuer nach, was wir alles erlebt hatten und wie viel Angst und Spaß ich auf der Reise hatte. Als Anwalt wusste ich natürlich genau, dass es eine Straftat war, ein Auto zu klauen und dazu noch ohne Fahrerlaubnis damit zu fahren, aber ich bereute es überhaupt nicht, dass wir es damals einfach gemacht haben. Ich hatte eine lange Zeit lang ein schlechtes Gewissen deswegen. Vor allem, weil mein Vater es mir immer wieder unter die Nase gerieben hat und mir immer wieder klar gemacht hat, was ich für ein schlechter Sohn sei, aber damit habe ich abgeschlossen und ich kann im Nachhinein sagen, dass das eins der besten Erlebnisse in meinem Leben war. In dem Brief stand das Datum, an dem ich mich damals mit Isa getroffen habe. Ich war so erstaunt, dass sie wirklich zu dem Treffen gekommen ist. Wir haben an dem Tag viel gelacht und sie hat mir sogar das Geld wieder gegeben, dass ich ihr damals ausgeliehen hatte. Am besten kann ich mich aber noch daran erinnern, wie wir uns geküsst haben. Das war mein erster richtiger Kuss und ich war so lange in sie verliebt, aber ich habe sie danach auch nie wieder gesehen. Als ich die ganze Zeit über meine Jugend nachdachte, fiel mir erst gar nicht auf, dass ich dabei ein breites Lächeln im Gesicht hatte. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich schon nicht mehr an die Arbeit dachte, die ich eigendlich verrichten wollte. Nicht einmal das Telefon habe ich klingeln hören. Ich wollte den Brief schon wieder weglegen, als mir auffiel, das unten auf das Blatt noch etwas rauf gekritzelt war: Es war noch ein Datum: „17.Juli 2060 um fünf Uhr nachmittags“ stand da. Ich wusste zuerst nicht, was das bedeuten soll, aber als ich noch einmal den Namen auf dem Umschlag sah, wurde es mir so langsam klar. Tschick, Isa und ich hatten uns auf dem Berg geschworen uns fünfzig Jahre später wieder an genau der selben Stelle, um genau die selbe Uhrzeit zu treffen. Daran hatte mich Isa bei unserem letzten Treffen noch einmal erinnert und das Datum auf meinen Brief geschrieben, den ich dabei hatte. Plötzlich fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Der Termin war dieses Jahr und das schon in zwei Wochen. Aber es erschien mir ziemlich albern, ernsthaft darüber nachzudenken, dort hin zu fahren. Wir waren damals alle noch Kinder und es ist sehr unwahrscheinlich, dass einer der Anderen sich überhaupt noch daran erinnert, geschweige denn vorhat, zum Treffen zu kommen. Also habe ich den Gedanken, dort hin zu fahren wieder bei Seite geschoben. Ich legte den Brief bei Seite und wandte mich wieder der Arbeit zu. Die nächsten Tage verliefen wieder ganz normal, aber ich wurde diesen Gedanken an den Brief nicht los. Ich musste immer wieder an die wilden Autofahrten und dieses seltsame Gefühl der Freiheit denken, das ich dabei hatte. Also beschloss ich einfach mal Urlaub zu machen. Einfach meine Sachen ins Auto zu schmeißen und los zu fahren. Ganz so wie früher. Vielleicht doch nicht ganz so wie früher. Das Auto das ich hatte war kein alter Lada, sondern ein teurer BMW mit Luxusausstattung und war außerdem nicht geklaut. Zudem hatte ich einen Führerschein und müsste bei einer Verkehrskontrolle nicht vor der Polizei flüchten. Der größte Unterschied aber würde sein, dass ich allein unterwegs wäre. Doch selbst davon wollte ich mich nicht aufhalten lassen. Ich wollte einfach mal wieder raus aus dem Alltag, mir andere Städte ansehen und dabei etwas erleben. Die nächste Woche war für mich sehr stressig. Ich arbeitete so viele Termine wie möglich ab und reichte meinen Urlaub ein. Da ich so gut wie nie Urlaub machte, hatte ich noch meinen gesamten Jahresurlaub übrig. Sogar noch zwei Wochen aus dem letzten Jahr. Ich hatte beschlossen, den ganzen Urlaub auf einmal zu nehmen. Das hatte sich natürlich in der Kanzlei rumgesprochen und ich bekam eine Menge Anrufe, was ich den jetzt mit meinen Mandanten vorhätte und ob bei mir alles in Ordnung sei. Für die Arbeit hatte ich natürlich gesorgt und alles abgearbeitet oder weitergeleitet, sodass ich nur einem Mandanten eine Absage erteilen musste. Ich räumte noch einmal mein gesamtes Haus auf, sprach auf meinen Anrufbeantworter einen neuen Text ein, dass ich für mehrere Wochen verreise, sagte beiden Nachbarn Bescheid und fing an, das Auto vollzuladen. Ich musste aber zu erst überlegen, was ich alles mitnehmen müsste und bin zu dem Entschluss gekommen, dass zum Beispiel ein Schlafsack nicht notwendig sein würde. Auch wenn ich die Reise möglichst ähnlich wie in meiner Jugend gestalten wollte, hatte ich beschlossen, lieber in Hotels zu schlafen, als im Auto. Ich würde mich nämlich mit Sicherheit nicht jugendlicher fühlen, wenn ich im Auto aufwache und ich meinen Rücken nicht mehr bewegen kann. Wenn man über sechzig ist, kann man sich dann auch ein Hotel gönnen, dachte ich mir und packte deshalb, bis auf ein zu großes T-Shirt und eine Zahnbürste, alle Sachen, die ich für Übernachtungen brauchte wieder aus. Ich nahm ansonsten auch nicht viel mit. Nur eine Menge Getränke, ein Buch, ein paar Snacks für zwischendurch und Kleidung zum Wechseln. Das mit der Kleidung gestaltete sich allerdings schwierig, denn ich hatte fast nur Anzüge und eine Robe in meinem Kleiderschrank. Also packte ich meine gesamte restliche Kleidung ein und nahm noch genug Bargeld mit, um notfalls etwas Neues kaufen zu können. Denn ich hatte nur zwei Jeans und ein paar T-Shirts, sodass ich bestimmt nach zehn Tagen fürchterlich stinken müsste, denn unterwegs würde ich ja nicht waschen können und es war draußen furchtbar heiß. Ich wollte anfangs auch noch mehr Essen einpacken, hab es dann aber bei Müsliriegeln, Keksen und ein paar geschmierten Broten belassen, da ich ohnehin in Hotels essen würde. Sobald alles bereit war, verriegelte ich das Haus und stellte die Alarmanlage an. Anschließend klebte ich noch einen Hinweiszettel an den Briefkasten und verabschiedete mich noch einmal von meinen Nachbarn. Und dann saß ich auch schon im Auto und fuhr auf der Autobahn Kilometer für Kilometer. Erst dann fiel mir auf, dass ich eigentlich gar keinen Plan hatte, wo ich überhaupt hin wollte. Es war auch schon spät geworden und ich beschloss, dass ich erst mal eine Unterkunft für die Nacht suchen sollte. Mein Navigationssystem fand schnell ein kleines Hotel, in dem ich übernachten konnte. Dort angekommen fing ich sofort an, mir Pläne zu machen, welche Städte ich in welcher Reihenfolge besuchen wollte. Ich fing an mit Lübeck, dann Hamburg und arbeitete mich immer weiter in den Süden vor. Als letztes auf meiner Liste stand München. Damit hatte ich alle Städte in Deutschland aufgeschrieben, die ich besuchen wollte. Am nächsten Morgen wachte ich mit furchtbaren Rückenschmerzen auf. Das Bett im Hotel war zwar immer noch besser, als im Auto zu schlafen, aber besonders bequem war es trotzdem nicht. Dafür war das Frühstück umso leckerer und die Bedienung sehr freundlich. Ich durfte mir sogar noch zwei Brötchen und etwas Obst für die Fahrt mitnehmen. Nach dem Auschecken fuhr ich erst mal in Richtung Norden, denn mein erstes Ziel war ja Lübeck. Ich musste aber die ganze Zeit an das Treffen denken. Denn an jenem Tag war schon der 17.Juli 2060. Ich versuchte mir die ganze Zeit einzureden, wie albern es wäre, auf einem Berg auf zwei Leute zu warten, die man so gut wie gar nicht kennt, nur weil man es sich als Jugendlicher geschworen hatte. Das funktionierte allerdings nicht lange und an der Grenze zu Schleswig-Holstein drehte ich dann doch wieder um und fuhr zum Berg. Auf der Autobahn fuhr ich fast durchgehend 200km/h, weil das Treffen schon um 17:00 Uhr sein sollte und ich Angst hatte, ich könnte die beiden verpassen, wenn ich zu spät käme. Um so näher ich dem Berg kam, umso aufgeregter wurde ich. Denn ich hatte entgegen aller Vernunft eine immer größer werdende Hoffnung, dass die Freunde aus meiner Jugend tatsächlich dort auftauchen könnten. Leider lenkten mich diese Gedanke ziemlich ab und ich bemerkte nicht, dass auf der Strecke eine zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von nur 120km/h vorgeschrieben war und ich fuhr einfach mit 200km/weiter. Dass ich so viel zu schnell war, bemerkte ich erst, als der Wagen vor mir, der um einiges langsamer fuhr als ich, geblitzt wurde. Sofort machte ich eine Vollbremsung, um langsamer zu werden. Dabei flog die Wasserflasche, die ich auf den Rücksitz gelegt hatte nach vorn, knallte gegen die Scheibe und zersprang in tausend Scherben. Für einige Sekunden war ich wie betäubt, von dem lauten Knall und den umherfliegenden Scherben und dem Wasser in meinen Augen. Ich spürte einen leichten Aufprall und dann war alles still. Als ich wieder richtig sehen konnte, bemerkte ich, dass ich mit meinem Auto an der Leitplanke entlang geschliffen war und nun quer auf dem Standstreifen stand. Ich schaltete also das Warnblinklicht an, stellte das Auto grade auf die Standspur um den Verkehr nicht zu behindern, zog eine Warnweste an und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Meine Hände zitterten immer noch ein wenig, wegen des Schocks. Ich musste von einigen Glassplittern getroffen worden sein, denn an meiner rechten Hand und im Gesicht hatte ich jeweils zwei kleine Schnittwunden. Das tat aber nicht sonderlich weh und ansonsten war ich auch nicht verletzt. Nur mein Herz raste vor Aufregung. Erleichtert konnte ich feststellen, dass der Schaden an meinem Auto nicht sehr groß war. Es war an einer Seite komplett der Lack abgekratz und einige Beulen drin, aber das Fahrzeug war noch vollkommen verkehrstüchtig. Nach reichlich Überlegung entschied ich mich, meinen Urlaub fortzusetzen und den Wagen erst hinterher in die Werkstatt zu bringen. Die Reparatur würde bei einem so teuren Auto sicher einiges kosten, aber ich hatte zur Zeit absolut keine Geldprobleme und auch kein Problem damit, mit einem verbeulten Auto durch die Gegend zu fahren. Also begann ich so viele Glasscherben wie möglich aus dem Wagen zu sammeln, damit ich bald weiter fahren konnte. Ich überlegte erst noch, ob ich wegen des Unfalls nicht vielleicht die Polizei rufen sollte, habe mich dann aber dagegen entschieden, weil kein anderes Auto daran beteiligt war und ich mich nicht noch unnötig lange mit der Aufnahme meiner Personalien und der Beschreibung des Unfallhergangs beschäftigen wollte. Außerdem musste die Polizei ja nicht unbedingt wissen, dass ich zu schnell gefahren war und meine Ladung im Auto nicht ausreichend gesichert habe. Als ich fast alle Scherben aus dem Auto gesammelt hatte, hielt hinter meinem Fahrzeug ein weiteres Auto und ein Mann stieg aus. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ fragte er mich. „Sind Sie verletzt?“ „Nein. Alles bestens,sagte ich. „Nur ein paar Lackschäden am Wagen. Sie können ruhig weiter fahren.“Der Mann begutachtete meine Schnitte im Gesicht und wollte grade etwas dazu sagen, da stieg auch die Frau aus dem Auto, mit dem er gekommen war und rannte auf mich zu. „Oh mein Gott! Sie sind verletzt!“ rief sie. „Das müssen wir sofort verbinden. Oder soll ich lieber einen Krankenwagen rufen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte sie zum Kofferraum ihres Autos und holte den Verbandskasten raus. Als sie wieder bei mir angekommen war, fing sie sofort an, sich alle Verbände anzusehen und fragte den Mann, welcher wohl der beste sei. „Ich glaube so etwas ist gar nicht nötig“, entgegnete der Mann. „Ein paar Pflaster sollten da auch reichen.“Die Frau sah ihn kurz an, dann sah sie mich an und ging mit dem Verbandskasten wieder zum Kofferraum. Diesmal kam sie mit einer Packung Kinderpflaster zurück. Ohne mich zu fragen, fing sie an mein Gesicht mit Piraten- und Prinzessinenpflastern zu bekleben. Dann klebte sie noch eins mit Einhörnern auf meine Hand und sah mich besorgt an. „Sind Sie sonst noch irgendwo verletzt? Ist Ihnen vielleicht schwindelig?“ „Nein, mir geht es gut! Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Vielen Dank für ihre Hilfe, aber ich muss jetzt auch weiter.“ sagte ich und musste mich bemühen, dabei das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. „Also nein! Das geht jetzt wirklich nicht. Nach einem Autounfall können sie doch nicht einfach weiter fahren.“ entgegnete die Frau und hörte sich dabei langsam immer hysterischer an. „Ich finde auch, dass sie sich erst mal untersuchen lassen sollten, bevor sie weiter fahren.“ mischte sich jetzt auch wieder der Mann ein. Und dann folgte eine lange Diskussion , darüber, ob sie mich weiter lassen können, oder nicht. Am Ende sind wir zu dem Kompromiss gekommen, dass der Mann eine Art Untersuchung mit mir durchführen durfte, um zu überprüfen, ob es mir auch wirklich gut geht. Ich musste also auf einer geraden Linie laufen, mich auf ein Bein stellen und mit meinem Zeigefinger meine Nasenspitze berühren. Solche Tests machte man für gewöhnlich mit Leuten um festzustellen, ob sie alkoholisiert sind. Ich hatte keine Ahnung, was das damit zu tun haben soll, meine Verkehrstüchtigkeit zu überprüfen, aber ich machte alle Aufgaben wiederstandslos mit, um einer noch längeren Diskussion zu entgehen. Nachdem mich der Mann für gesund befunden hat, verabschiedete er sich und meinte, dass ich jetzt fahren könne. Die Frau sah nicht sehr überzeugt aus, beschwerte sich aber nicht weiter und beide gingen zurück zu ihrem Auto. Ich bedankte mich bei den beiden für ihre Fürsorglichkeit und setzte meine Fahrt endlich fort. Es war jetzt nicht mehr weit bis zu dem Berg auf dem wir uns treffen wollten und ich war, trotz des Zwischenfalls, eine halbe Stunde zu früh oben an dem Kreuz. Da ich noch Zeit hatte und von dem Unfall und der ganzen Diskussion erschöpft war, holte ich mir das Obst und die Kekse aus dem Wagen und machte ein kleines Picknick. Immer wieder kamen Leute vorbei und sahen mich komisch an, als wäre ich ein Irrer oder so. Als ich mein Spiegelbild in einer Pfütze sah, wusste ich auch warum. Ich hatte währen der Aufregung ganz vergessen, dass mir immer noch die bunten Kinderpflaster im Gesicht klebten. Damit sah ich absolut lächerlich aus und ich zog sie mir sofort wieder ab. Die Kratzer in meinem Gesicht bluteten nicht einmal. Sie wahren nur ganz klein und vielen deutlich weniger auf, als die Pflaster. Der eine Schnitt an meiner Hand war allerdings etwas tiefer und brannte ein wenig. Das viel mir auch erst jetzt auf, da ich zuvor viel zu aufgeregt gewesen war, um den Schmerz zu bemerken. Ich ging also wieder zum Auto und klebte ein normales Pflaster darauf. Den Rest der Zeit verbrachte ich wartend vor dem Kreuz und aß dabei halb geschmolzene Schokokekse. Ich wartete über eine Stunde lang und um so länger ich wartete, umso alberner kam ich mir vor, dass ich wirklich geglaubt hatte, die beiden würden zum Treffen erscheinen. Irgendwann gab ich die Hoffnung auf und packte enttäuscht das restliche Essen wieder ins Auto. Ich wollte mich schon wieder in den Wagen setzten, da sah ich eine bekannte Gestalt den Berg hochstapfen. Es war Tschick. Ich erkannte ihn sofort. Er sah immer noch genauso aus wie vor 50 Jahren. Er hatte damals noch nicht so viele Falten und keinen Bart im Gesicht, aber alles andere war noch genauso. Die Narbe am Unterarm, die hohen Wangenknochen und die unverwechselbaren Schlitzaugen. Es gab überhaupt keinen Zweifel, dass dies der Mann war, mit dem ich in meiner Jugend so ziemlich die besten Tage meines Lebens verbracht habe. Sofort überkam mich ein Gefühl der Freude. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn je wieder sehen würde. Und jetzt stand er da einfach vor mir, als wäre es das Normalste der Welt. Ich war mir nicht sicher, wie ich ihn begrüßen sollte. Ich kannte ihn ja eigentlich gar nicht. Ich wollte ihm grade die Hand geben, da fiel er mir auch schon freudestrahlend um den Hals. „Mann. Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst.“ sagte er. „Dachte ich von dir auch nicht,“entgegnete ich. „Was ist passiert?“ Fragte Tschick und deutete auf die Kratzer in meinem Gesicht und auf meiner Hand. Ich wollte ihn nicht die Geschichte erzählen, wie ich zu schnell gefahren war und dass die Schnitte von einer kaputten Wasserflasche stammten. Deshalb sagte ich einfach nur:“Autounfall.“ „Autounfall? Das ist ja typisch für dich,“ sagte er und lachte. Ich wusste zuerst gar nicht was daran so lustig sein sollte, aber ich musste zugeben, dass ich es dann auch irgendwie lustig fand. Tschick und ich kannten uns ja schließlich mit Autounfällen aus. „Hast du denn mittlerweile einen Führerschein?“, fragte er. „Ja. Natürlich,“ antwortete ich. „Geile Karre,“ unterbrach mich Tschick und ging zu meinem Auto. „Ist das deiner?“ Fragte er. „Sieht gar nicht nach Unfall aus.“ „Ja. Das ist mein Auto.“, Sagte ich. „Der Schaden ist auf der anderen Seite.“ „Und der Wagen ist auch nicht geklaut?“, fragte er scherzhaft und zwinkerte mir dabei zu. Er ging um den Wagen herum, um den Schaden zu begutachten. „ Sind doch nur ein paar Kratzer. Ich habʼn Kumpel. Der beult dir das fürʼn Fünfziger locker wieder aus.“ „Nein danke!“ antwortete ich. „Ich bring den Wagen lieber in die Werkstatt.“ „Wie du meinst.“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „ Eigentlich musst du überhaupt nichts daran machen lassen. Sieht zwar dann ein bisschen scheiße aus, aber solange die Karre läuft ist das ja egal. Als ich mal vor den Bullen geflohen bin, hatte ich sogar ein Auto, dass hatte nur drei Räder.“ Tschick lachte. „Das war lustig“ ,sagte er. Ich war davon schockiert, dass er mir grade total ruhig erzählte, dass er vor der Polizei geflohen sei. Ich wollte ihn fragen, aus welchen Grund er verfolgt wurde, traute mich aber nicht, aus Angst, ich würde in eine Straftat mit einbezogen werden. Er hatte schon als Jugendlicher eine gewisse Neigung dazu, vor kriminellen Aktionen nicht zurück zu schrecken. Wenn er diese Neigung als Erwachsener nicht abgelegt hat, war er vielleicht inzwischen ein Bankräuber oder so etwas. Ich fühlte mich extrem unwohl bei dem Gedanken, dass ich mich vielleicht mit einem Kriminellen unterhalten könnte, der von der Polizei gesucht wird. Zudem fand ich es irgendwie seltsam, wie er sprach. Er hatte immer noch den gleichen schrecklichen Sprachstiel wie früher. Das hatte mich damals nicht gestört, aber jetzt störte es mich. Er hörte sich ein bisschen so an, als hätte er sich in den letzten fünfzig Jahren kein Stück weitergebildet. Seine Stimme war nicht nur viel tiefer geworden, er hatte jetzt auch einen starken russischen Akzent. Ich konnte einfach nicht einschätzen, was ich von ihm halten sollte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich so vorschnell über ihn geurteilt hatte. Als ich Tschick das erste mal gesehen habe, hatte ich auch einen schlechten Eindruck und wir sind trotzdem Freunde geworden. Vielleicht macht er auch jetzt nur einen schlechten Eindruck und ist in Wirklichkeit total nett. Und ich wusste ja selber, dass die Idee, er könnte ein Bankräuber sein, total bescheuert ist. Denn wenn er einer wäre, hätte er bestimmt genug Geld und müsste nicht in diesen zerlumpten Klamotten herumlaufen, die er trug. So wie er aussah, könnte er eher ein Obdachloser sein, anstatt einem Bankräuber. Aber diese Gedanken waren alle nur Spekulationen. Tschick war schließlich mein Freund. Ich konnte ihn ja auch einfach fragen. Aber er kam mir zuvor. „Was hast du eigentlich so gemacht?“ fragte er. „Also die letzten fünfzig Jahre meine ich.“ Ich wusste gar nicht wo ich anfangen sollte. Die letzten fünfzig Jahre wahren ja fast mein ganzes Leben. Also fing ich an dem Zeitpunkt an, von dem an Tschick mich nicht mehr gesehen hatte. Ich erzählte ihm, wie ich meinen Abschluss machte, wie ich mit Tatjana zusammen gekommen war, von unserer Hochzeit, meinen Studium, wie ich Anwalt geworden war und von unserer Scheidung. Ich erzählte ihm einfach alles aus meinem Leben. Sogar, wie ich jetzt lebte, dass ich mich allein fühlte und was ich so bei meiner Arbeit machte. Aber umso länger ich über mein Leben redete, umso mehr wurde mir klar, dass ich in meinem Leben wirklich nichts Besonderes hatte. Ich hatte nie etwas aufregendes gemacht, oder erlebt. Sogar meine Arbeit war langweilig. Immer nur Papierkram und Diskussionen. Ich war allein und langweilig. Tschick sah mich während der ganzen Geschichte mit ausdrucksloser Miene an. Wahrscheinlich war ich der langweiligste Typ, den er je kennen gelernt hat. Und dafür ist er extra, was weiß ich von wo, hier her gekommen. „Du bist ja ein richtiger Spießer geworden.“ sagte er grinsend als ich fertig war und klopfte mir dabei auf den Rücken. „Ja, Kann schon sein,“ gab ich zu. „Und wie war es bei dir in den letzten fünfzig Jahren?“ „Also das war so...“ begann er. Und was ich da zu hören bekam war die unglaublichste und traurigste Geschickte, die ich jemals gehört hatte. Ich wusste, dass in Russland vor einigen Jahren ein Krieg ausgebrochen war und hörte in den Nachrichten immer wieder, dass es viele Opfer gab und dass sich die Lage dort immer weiter verschlimmert. Aber ich wusste nicht, dass Tschick dabei gewesen war. Er erzählte mir, dass er, kurz nachdem wir uns nicht mehr sehen durften, zu seiner Familie nach Russland gebracht wurde, und dort gut gelebt hatte, das er dort seinen Schulabschluss gemacht hat, als Koch gearbeitet hat und sogar sein eigenes Restaurant aufmachen konnte. Er erzählte mir, dass er gespart hat und sich ein eigenes Haus gekauft hat. Er sagt immer wieder, wie schön diese Zeit war. Als es zum Krieg kam, versuchte er mit seiner Familie zu flüchten, berichtete Tschick. Allerdings wurden sie gefangen genommen und festgehalten. Er erzählte mir, wie er mit seinem Lebensgefährte versucht hat, von dort zu fliehen und wie dieser dabei getötet wurde. Allmählich bekam Tschick Tränen in den Augen, aber er hörte nicht auf zu erzählen. Er beschrieb mir, wie er entkommen konnte und seine Familie zurück lassen musste. Ich hoffte die ganze Zeit, dass seine Geschichte irgend eine Wendung zum Guten nehmen würde, oder wenigstens bald zu Ende sein würde, aber er erzählte einfach immer weiter. Davon, dass er die ganze Zeit auf der Flucht war, um nicht noch einmal gefangen genommen zu werden. Und dass sein Haus mit seinem gesamten Besitz zerstört wurde und ihm keine andere Wahl mehr geblieben war als, wieder nach Deutschland zu gehen. Tschick erzählte, dass er den ganzen Weg bis nach Deutschland zu Fuß gegangen sei und unterwegs fast verdurstet und erfroren wäre. Als er mit seiner Geschichte endlich fertig war, sah er mich eindringlich an und sagte: „Weißt du, ich hab das außer dir noch Niemandem erzählt.“ Das hatte ich mir schon gedacht. Wem hätte er diese Geschichte auch schon erzählen sollen? Er war ja die ganze Zeit auf der Flucht. Ich war mir zuerst aber nicht sicher, ob ich ihm Glauben schenken sollte, denn Tschick wirkte die ganze Zeit über abwesend und verwirrt, als wüsste er gar nicht so genau wovon er eigentlich redet. Seinem Aussehen nach zu urteilen war seine Geschichte allerdings war, denn er wirkte tatsächlich so, als hätte er seit Monaten nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen oder eine warme Mahlzeit zu sich genommen. Im Grunde war es ja auch völlig egal, ob ich ihm die Geschichte glaubte oder nicht, denn er glaubte offenbar jedes Wort, dass er mir erzählte und ich hatte großes Mitleid mit ihm und seiner Familie und all den anderen Menschen dort, die einfach nur friedlich leben wollten. Und plötzlich kam mir mein eigenes einsames Leben tatsächlich viel besser vor. Er beneidete mich bestimmt um meine langweilige Arbeit und meine Abende allein vor dem Fernseher. Ich fand es nur seltsam, dass Tschick währen seiner Geschichte die ganze Zeit zu tieftst betrübt aussah und als er geendet hatte wieder lächelte und fröhlich wirkte. „Das ist jetzt zum Glück vorbei.“ Sagte Tschick. „Jetzt gibtʼs nur noch dich und mich. Ganz wie in alten Zeiten.“ Ich musste zugeben, dass ich mich über seinen Enthusiasmus freute, auch, wenn er mich sehr verwunderte. Da Tschick mir leid tat und offensichtlich noch dringender einen Freund brauchte, als ich, fragte ich ihn, ob er nicht Lust hätte bei meiner Urlaubsreise mitzukommen. „Meinst du das Ernst?“ Fragte er und sah mich überrascht an. Ich versicherte ihm, dass es mein Ernst sei und erklärte, dass es zu zweit bestimmt mehr Spaß machen würde. „Mann. Du nimmst das mit den alten Zeiten ja ganz schön ernst.“ sagte Tschick und lachte. „Aber wenn es für dich wirklich in Ordnung ist, bin ich natürlich dabei.“ Damit war die Sache beschlossen. Auch wenn ich es etwas seltsam fand, dass er die ganze Zeit so übertrieben fröhlich war, freute ich mich, dass ich nicht allein unterwegs sein würde. Aber ich konnte ihn auch verstehen. An seiner Stelle würde ich auch versuchen einiges zu vergessen. Und ich würde ihm natürlich dabei helfen, indem ich ihn mitnahm. Ich erklärte ihm, wo ich überall hinwollte und wo wir am besten lang fahren würden. Tschick war allerdings der Meinung, dass wir gar keinen Plan bräuchten. Er sagte, dass wir als Jugendliche auch keinen Plan gehabt hätten und es trotzdem Spaß gemacht hätte. Und da musste ich ihm Recht geben und wir beschlossen meinen Plan zu vergessen und einfach drauf los zu fahren, quer durch Deutschland. Ich schlug vor, dass wir einfach in den Städten hielten, die uns gefielen und das fand er auch gut. Es war langsam schon dunkel und wir setzten uns ins Auto, weil es zu regnen begonnen hatte. „Wollte das Mädchen nicht auch kommen?“ fragte Tschick, nachdem er gewaltsam die verbeulte Beifahrertür geöffnet hatte. „Vielleicht hat sie es vergessen,“ antwortete ich. „Ich wurde auch nur durch einen Zufall daran erinnert,“ fügte ich hinzu. In der ganzen Zeit in der wir über unsere Vergangenheit geredet hatten, habe ich ich total vergessen, dass Isa auch zum Treffen kommen wollte, aber jetzt wo Tschick es ansprach, fand ich es schade, dass sie nicht erschienen war. Aber ich war trotzdem sehr froh, dass ich hin gefahren war, denn an sonsten hätte ich meinen alten Freund nicht wieder getroffen und wir wären beide allein unterwegs. An dem Abend unterhielten Tschick und ich uns noch sehr lange über unser kleines Abenteuer in unserer Jugend und alle möglichen anderen Themen. Ich bemerkte dabei, das wir beide uns in vielen Punkten ähnlich waren. Nicht nur in denen, dass wir beide weder Familie noch Freunde hatten. Ich fand ihn dabei immer sympathischer und wir saßen, bis es Nacht wurde im Auto. Er aß dabei mein gesamtes Essen auf, dass ich verstaut hatte. Ich hatte noch nie jemanden so schnell essen sehen. Tschick musste extremen Hunger gehabt haben und ich fragte mich, wann er wohl das letzte mal etwas gegessen haben könnte, traute mich aber nicht ihn zu fragen, weil ich vermutete, das Tschick an einer Art Schizophrenie litt, denn jedes mal, wenn er über seine Vergangenheit in Russland sprach, war er ein trauriger, alter Mann, der verstört und verängstigt wirkte. Aber wenn wir über etwas anderes redeten, hatte ich eine viel zu fröhliche Version des vierzehnjährigen durchgeknallten Jungen vor mir, mit dem ich ein Auto geklaut hatte und versucht hatte, in die Walachei zu kommen. Ich wusste nicht so ganz, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Aber da ich den fröhlichen verrückten Jungen lieber mochte, als den verängstigten alten Mann, versuchte ich nicht mehr über seine Vergangenheit zu sprechen. Das funktioniert auch gut und wir redeten fast die ganze Zeit über unsere verrückte Fahrt. Tschick erzählte grade davon, wie die dicke Frau ihm damals den Feuerlöscher auf den Fuß geworfen hatte und musste lachen, so dass ihm die Weintraube, die er grade im Mund hatte, im Hals stecken blieb und er einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Er hustete fast zwei Minuten lang, bis die Weintraube im Hohen bogen zum offenen Fenster raus flog. Direkt in das Gesicht einer Frau, die dort stand. Die Frau kam zum Auto uns sah verärgert zu uns hinein. Ich wusste genau, dass ich diese Frau noch nie zuvor gesehen hatte, aber sie sah irgendwie seltsam vertraut aus. Sie hatte blondes Haar, hatte ein hübsches Gesicht und war jung. Ende zwanzig würde ich schätzen. Und so wie sie jetzt da stand und finster zu uns in den Wagen blickte, kam sie mir unglaublich bekannt vor. Aber ich konnte mir einfach nicht erklären warum. Normalerweise vergaß ich nie ein Gesicht und wenn wir uns kennen würden, wüsste ich auch ihren Namen. Deshalb überraschte es mich umso mehr, als sie fragte: „Heißt einer von euch beiden Maik Klinkeburg oder so?“ „Es heißt Klingeberg,“ korrigierte ich sie. „Kennen wir uns?“ „Noch nicht.“ Sagte die Frau. „Ich heiße Lara Schmidt. Und du bist dann bestimmt Tschick, oder? Fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Wow. So wurde ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt,“ keuchte Tschick, der nach seiner Hustenattacke gerade erst wieder zu Atem gekommen war. „Woher weißt du, wer wir sind?“ Fragte ich die Frau. „Meine Mutter, Isa Schmidt, schickt mich. Sie hat gesagt, dass ich euch hier finden würde,“ sagte sie. „Ich bin schon seit Stunden auf der Suche nach euch beiden. Ich dachte schon, dass ich euch gar nicht mehr finden würde,“ erklärte sie. Diese Frau war also Isas Tochter. Deshalb kam sie mir so bekannt vor. Sie sah genauso aus wie Isa damals. Nur ein wenig älter. „Und warum schickt deine Mutter dich hierher und kommt nicht selbst?“ Wollte Tschick von ihr wissen. Und sprach damit aus, was ich mir gerade dachte. Sie sah betrübt zu Boden. „Sie ist tot,“murmelte sie. „Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzten,“ entschuldigte sich Tschick und sah sie mitfühlen an. Die Nachricht von Isas Tod traf mich wie ein Schlag. Sie war das Mädchen, in das ich lange heimlich verliebt war, das Mädchen, das mich immer Schwachkopf genannt hat und mich trotzdem küssen wollte. Obwohl ich sie eigentlich gar nicht gekannte habe, stiegen mir Tränen in die Augen und ich musste an den Tag zurück denken, an dem ich sie das letzte mal sah. Sie hatte mich auf den Boden geworfen und dann ausgelacht, weil ich mit dieser Überraschungsattacke nicht gerechnet hatte. Wir haben damals den ganzen Tag gelacht, spielerisch mit einander gerungen und sie hat mich fast durchgehend beleidigt. Aber vor allem konnte ich mich ganz genau an den Moment erinnern, als ich von ihr meinen ersten Kuss bekam. Und jetzt war es sicher, dass ich sie niemals wieder sehen würde. Ich wollte mir meine Trauer nicht anmerken lassen und versuchte deshalb das Thema zu wechseln. „Willst du nicht einsteigen?“ Fragte ich Lara. „Ich kann dich nach Hause fahren, wenn du willst.“ Sie stieg zwar ein, sah mich aber verwirrt an. „Warum nach Hause fahren?“ fragte Lara. „Ich hab euch doch gerade erst gefunden. Meine Mutter hat mir immer davon erzählt, wie sie euch kennen gelernt hat und dass sie am heutigen Datum unbedingt wieder hier her kommen muss, um euch wieder zu sehen. Als sie dann krank wurde, hat sie mich gebeten, für sie her zu kommen,“ erklärte sie. „Außerdem habe ich im Moment nicht wirklich ein richtiges zu Hause,“ gab sie zu. „Als meine Mutter gestorben ist, konnte ich die Miete nicht mehr bezahlen und wurde aus unserer Wohnung geworfen. Jetzt schlafe ich einfach bei Freunden, bis ich was neues gefunden habe,“ gestand sie und es war ihr anzusehen, dass es ihr unangenehm war. „Warum gehst du nicht einfach zu deinem Vater?“ Fragte ich Lara und wollte die Frage am liebsten sofort wieder zurück nehmen, denn auf die Idee wäre sie sicher selber schon gekommen, wenn sie keinen Grund hätte, der dagegen sprach.“ Den Kenne ich nicht,“ antwortete sie ungerührt.„Klasse! Dann kannst du ja mitkommen,“ rief Tschick begeistert und fiel ihr dabei ins Wort. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er so unhöflich war, denn es war ganz offensichtlich, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte und er manchmal nicht einmal wusste, wovon er redete. Ich saß aber auch schon seid Stunden mit ihm im Auto und hatte mich daran gewöhnt. Eigentlich musste ich sogar zugeben, dass das die Gespräche mit ihm irgendwie interessanter machte. Aber Lara wusste das nicht. Und sah ihn verwirrt und verärgert an. „Was soll Klasse sein?“ Fragte sie wütend. „Das ich aus meiner Wohnung geworfen wurde?“ Ich versuchte ihr zu möglichst leise zu erklären, dass Tschick es nicht so gemeint hätte, was er alles durchmachen musste und das er jetzt nicht mehr so richtig alle Tassen im Schrank hätte. Das ich dabei leise sprach war im Grunde genommen vollkommen unnötig, denn Tschick war auf dem Beifahrer Sitz eingeschlafen. Lara nickte immer noch leicht verwirrt und fragte wieder in normaler Lautstärke, wohin sie denn mitkommen sollte. Davon wachte Tschick dann wieder aus seinem kurzen Nickerchen auf und sagte:“Keine Ahnung. Einfach losfahren. Zu dritt ist lustiger.“ Sie sah mich fragend an und ich nickte nur. „Also wenn das so ist, bin ich dabei.“Sagte sie mit ehrlicher Begeisterung. Ich war von ihrer Antwort sehr überrascht und auch ein wenig verärgert, denn es war ja schließlich mein Auto und ich wurde nicht einmal gefragt. Aber ich wusste auch keinen Grund, warum sie nicht mitkommen sollte und entschied mich daher sie mitzunehmen. Die erste Nacht verbrachten wir auf dem Berg im Auto, da ich zu müde zum fahren war und nachts ohnehin nicht gut sehen konnte. Am nächsten Morgen fuhren wir zu einer Tankstelle, um Frühstück zu kaufen und ich konnte erleichtert feststellen, dass mein Rücken nach der Nacht im Auto auch nicht mehr wehtat, als nach meiner Nacht im Hotel. Nachdem wir gefrühstückt hatten, ging es direkt auf die Autobahn und unsere gemeinsame Reise hatte begonnen. Und das waren dann also die Menschen mit denen ich meinen Urlaub verbringen sollte: Eine Obdachlose Frau, die ihre Mutter verloren hatte und ein alter Mann der ein Flüchtling war und zudem noch eine Gespaltene Persönlichkeit hatte. Ich war mir sicher, dass diese Fahrt unmöglich ohne Komplikationen verlaufen würde, aber wenn ich genauer nachdachte, war es genau dass, was ich immer wollte. Nicht zu wissen, was passieren würde, einfach losfahren ins Unbekannte. Und eins war sicher. Das würde eine Reise werden, die keiner von uns so schnell vergisst...


Von Maren Wilken

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