Vorgeschichte von Isa
Ich
schlug die Augen auf, realisierte kurz wo ich war, brauchte dafür
aber nicht sehr lang. Das selbe öde zimmer, das selbe öde leben,
die selben sich streitenden Eltern in der unteren Etage unsres viel
zu großen, viel zu kühlen Hauses in der Vorstadt Kölns. Trotzig
ging ich an den, von meiner Mutter höchstpersönlich ausgesuchten,
Designer Klamotten vorbei und griff in meinen Schrank um die immer
gleiche camouflagefarbende Hose und ein weißes, labbriges T-shirt
heraus zu ziehen. Das dabei die anderen schicken und teuren Klamotten
aus dem Schrank auf den Boden fielen, störte mich nicht im
geringsten, ich mochte sie eh nicht.
Ich
schlich die Treppe runter um möglichst unbemerkt den Streit meiner
Eltern mit verfolgen zu können. ''WIR KÖNNEN ES IHR NICHT SAGEN,
SIE BENIMMT SICH EH SCHON VOLLKOMMEN DANEBEN.. DAS KÖNNTE WER WEIß
WAS AUSLÖSEN!!“ schrie meine wie immer angeschwibbste Mutter
meinen Vater an. Ich war mittlerweile am Ende der Treppe angekommen
und konnte die beiden durch die Gläserne Küchentür hindurch
beobachten. Mein Vater wirkte so an teilnahmslos wie immer. '' Ganz
im Ernst, was geht es mich an was du mit der Göre anstellst. Sag es
ihr oder lass es sein. Ich hatte es mir anders vorgestellt ein Kind
zu adoptieren, du selbst sagtest du übernimmst die Erziehung und
jetzt sieh sie dir an, völlig verwahrlost und aufmüpfig!“ Er
schlug eine etwas abgewetzte und vergilbte Mappe auf den Küchentisch
und verließ mit strengen, schnellen Schritten den Raum. Ich hatte
nicht mal Zeit schockiert zu sein, es ging mir nur darum mich so
schnell wie möglich zu verstecken. In meinem Kopf drehten sich die
Gedanken nur um ein einziges Wort... Adoptiert... Ich war Adoptiert.
Mir wurde mulmig, schlecht, heiß, kalt, alles auf einmal. Auch wenn
ich meine spießigen Eltern und ihr geheucheltes Leben nicht mehr
ertragen konnte, zog es mir trotzdem den Boden unter den Füßen weg.
Meine
Mutter verließ taumelt die Küche, kurz danach hörte ich eine
Zimmertür die aggressiv zugeschlagen wurde. Benommen ging ich in die
Küche, ich musste mir diese Mappe angucken, ich funktionierte wie
ferngesteuert. Doch auch in der Mappe fand ich keine Anhaltspunkte
über die Familie der ich eigentlich angehörte. Ich fand nur die
Adresse des Heimes in dem ich als Säugling abgegeben wurde. Es ist
in Prag. Ich wurde sauer und mit der Wut kam relativ schnell der
Beschluss meine angeblichen Eltern und das Leben das ich so hasste
hinter mir zu lassen. Ich musste raus finden ob es da draußen noch
etwas oder jemanden gab bei dem ich mich wohler und verstandener
fühlte als jetzt und hier.
Ich
verließ das Haus, ich packte nicht mal Sachen für meine beginnende
Reise, wie ferngesteuert. Ich ging die Straße entlang, wie
ferngesteuert. Ich ignorierte die mich grüßenden Nachbarn, wie
ferngesteuert. Ich konnte nicht wirklich sagen wie ich an mein Ziel
kommen sollte, ich hoffte nur das es dort besser war als hier, alles
wäre besser als hier.
Von Hanna Dräwe
Das Treffen
Ich saß in meinem
Arbeitszimmer am Schreibtisch und tippte nun schon seit Stunden am
Computer, durchforstete Mahnungen und Briefe von meinen Mandanten und
trank dabei meinen Tee. Dieser Tag verging dabei wie jeder andere. Es
war jetzt schon 25 Jahre vergangen, seitdem ich mein Studium beendet
hatte und Rechtsanwalt geworden war. Seit meiner Scheidung war
sowieso jeder Tag gleich. Egal ob Wochenende oder Arbeitstag . Alle
Tage waren gleich: Ich blieb immer im Haus, kochte möglichst
gesundes Essen, arbeitete vormittags und guckte abends ein paar
Serien oder Fußball im Fernsehen. Als ich einmal ein paar Tage
Urlaub nahm, wusste ich gar nichts mit den Vormittagen anzufangen,
deshalb versuchte ich in einer Bar neue Leute kennenzulernen.
Allerdings roch es da immer nach Alkohol. Ich konnte den Geruch von
Alkohol noch nie so richtig leiden, aber seitdem meine Mutter vor
fast fünfzig Jahren an einer Alkoholvergiftung gestorben war, habe ich
mich immer noch unwohler bei diesem Geruch gefühlt und mir wurde
jedes Mal sofort übel. So ist es immer noch und deshalb habe ich den
Versuch in der Bar sofort wieder aufgegeben. Ich habe auch im
Internet versucht Freunde zu finden, aber auch das hat nie
funktioniert. Wenn ich ehrlich sein soll habe ich eigentlich
überhaupt keine Freunde. Ich verstehe mich zwar ganz gut mit meinem
Nachbarn Dieter und wir gucken uns des Öfteren mal ein Fußballspiel
zusammen an, aber als wirklichen Freund würde ich ihn nicht
bezeichnen. Das war natürlich nicht immer so. Als ich noch mit
Tatjana verheiratet war, hatten wir viele Freunde, mit denen wir uns
gut verstanden haben. Die haben aber fast alle irgendwann Kinder
bekommen und Tatjana war von dieser Kinderidee ganz besessen und hat
mir unaufhörlich erzählt, wie schön es doch wäre, eigene Kinder zu
haben und ob es für uns nicht auch langsam Zeit wäre über unsere
gemeinsame Zukunft nachzudenken. Daran ist unsere Ehe schlussendlich
kaputt gegangen und ich hatte weder Kontakt zu meiner Frau, noch zu
unseren gemeinsamen Freunden, die, wie sich herausgestellt hat, eher
Tatjanas Freunde waren, anstatt meine. Unsere Ehe ist natürlich
nicht nur in die Brüche gegangen, weil ich keine Kinder wollte. Ich
bin mir nicht einmal sicher, ob ich nicht vielleicht doch welche
wollte. Ich mag Kinder sehr. Vielleicht hatte ich einfach zu große
Angst, dass ich ein schlechter Vater sein könnte. Vielleicht hatte
ich einfach nur Angst, dass ich so werden könnte wie mein Vater.
Wenn ich mich daran erinnere, wie er mich geschlagen und verprügelt
hat, wenn ihm etwas nicht gepasst hat, läuft mir heute noch ein
Schauer über den Rücken. Vor allem die Jahre nach dem Tod meiner
Mutter waren besonders schlimm. Als ich 17 war, habe ich mich ans
Jugendamt wenden müssen, weil ich dachte, er würde mich noch eines
Tages umbringen, wenn er wütend von der Arbeit wiederkommt. Nachdem
ich eine Wohnung vom Amt bekommen habe, hatte ich nie wieder Kontakt
zu meinem Vater. Als er ins Heim gekommen ist, musste ich zwar einige
Kosten für seine Pflege übernehmen, aber ich wollte ihn nicht
besuchen, da ich mir geschworen habe, diesen Mann nie wieder zu
sehen. Und dabei ist es auch geblieben. Ich war nicht einmal traurig,
als ich vor einem Jahr die Nachricht von seinem Tod bekommen habe.
Das einzige, was ich dabei empfunden habe, war Freude darüber, dass
ich die Pflegekosten nicht mehr zahlen muss. Ich kann natürlich
nicht alles auf meine verkorkste Kindheit schieben. Meine Kindheit
war ja auch nicht nur schlimm, aber ich glaube schon, dass das der
Grund ist, der mich davon abgehalten hat, selbst Verantwortung für
Kinder zu übernehmen. Jetzt ist es jedenfalls zu spät. Aber die
Kinderfrage war auch nicht der einzige Grund, warum Tatjana mich
verlassen hat. Sie hat ständig gesagt, dass ich nur mit meiner
Arbeit verheiratet wäre und ich mich gar nicht für andere Dinge
interessieren würde. Und das stimmte auch. Ich habe nie verstanden,
wie sie nach einem langen Arbeitstag noch ins Fitnessstudio gehen
konnte und sich abends noch mit Freunden zum Cocktail trinken treffen
konnte. Ich war wirklich noch nie davon begeistert, irgendwohin zu
gehen und mich mit anderen Leuten zum Sport, zu Partys oder auch nur
zum Essen zu verabreden. Die gemeinsame Zeit mit Tatjana habe ich
immer genossen. Wir haben oft im Wohnzimmer gesessen und Spiele
gespielt. Brettspiele, Kartenspiele oder Rollenspiele. Wir haben auch
irgendwann angefangen, unsere eigenen Spiele zu erfinden. Die Abende
mit ihr waren immer wundervoll. Wir haben viel geredet und viel
gelacht. Immer wenn sie gelacht hat, hat mich das so glücklich
gemacht. Wenn Tatjana das Gefühl gehabt hat, dass ich sie nicht
lieben würde, lag sie falsch. Ich habe sie immer geliebt. Schon
damals in der Schule war ich in sie verliebt und bin es jetzt auch
noch. Sie ist immer für mich da gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter,
in meinem Studium, als ich wegen eines Herzinfarkts im Krankenhaus
lag und an jedem anderen Tag war sie auch für mich da. Meine Frau
bedeutete mir immer alles und ich habe sie über alles geliebt. Aber
nur sie. Nicht ihren Sport, nicht ihre Freunde oder ihre Partys. Ich
wollte sie am liebsten ganz für mich allein haben und das war das
Problem. Sie hat mich jedenfalls verlassen und jetzt habe ich
niemanden mehr. Ich habe sogar überlegt, ob ich mir eine Katze
kaufen soll, um nicht ganz so allein zu sein, aber ich befürchtete,
dass das meinem guten Image als Anwalt schaden könnte. Wenn so etwas
wie „Staranwalt Klingeberg wird von Ehefrau verlassen und redet mit
Katze“ in der Zeitung stünde, würde ich mit Sicherheit nicht mehr
so viele Aufträge bekommen. Da saß ich also. An einem ganz normalen
Tag. Ein einsamer alter Rechtsanwalt, kurz vor der Rente. Ohne Frau,
ohne Freunde, ganz allein mit meiner Arbeit. Ich wollte gerade mit der
Arbeit aufhören, denn Deutschland spielte an dem Abend und Dieter
wollte vorbei kommen und sich mit mir das Spiel ansehen. Ich wollte
nur noch den letzten Brief von meinem Mandanten lesen und abheften,
aber ich konnte ihn nirgends finden. Ich suchte in allen Schubladen
und fand ihn schließlich auch. Unter dem Brief lag jedoch noch ein
Umschlag, den ich keinem Fall zuordnen konnte. Weil ich noch mehr
Arbeit vermutete, legte ich ihn auf den Schreibtisch um ihn gleich am
nächsten Tag zu bearbeiten. Noch bevor ich ihn mir genauer anschauen
konnte, klingelte es auch schon an der Tür. Das war natürlich
Dieter, der sich, wie zu jedem Spiel, ein paar Flaschen Bier
mitgebracht hatte. Der Abend verlief so wie immer, wenn wir Fußball
guckten: Wir hatten zwar keine Ahnung von Fußball, schrien aber das
ganze Spiel über in den Fernseher, was die Spieler für Fehler
machten, sprangen auf, wenn es spannend wurde und fielen uns jubelnd
in die Arme, wenn ein Tor viel. Nach dem Spiel redeten wir immer noch
ein bisschen über Politik. Über den Krieg im Osten und die
angespannte Lage wegen der Ölkrise. Als Dieter sein letztes Bier
ausgetrunken hatte, sagte er, dass ich mich nicht beschweren solle
und das ich damit glücklich sein soll, was ich habe und das es
anderen Menschen noch viel schlechter geht und so. Dann
verabschiedete er sich und ging. Es war
mittlerweile schon spät und ich räumte nur noch ein bisschen auf
und ging dann ins Bett. Ich konnte aber noch nicht sofort schlafen.
Ich musste die ganze Zeit daran denken, was Dieter gesagt hatte.
Falls ich mich zu oft über mein Leben beschwerte, fiel es mir
jedenfalls nicht auf. Klar ging es anderen Menschen schlechter, aber
warum sollte mich das glücklicher machen? Und ich würde sehr gerne
mit dem glücklich sein, was ich habe, aber Glücklichsein kann man
sich ja nicht aussuchen. Entweder man ist es oder nicht. Und ich bin
es im Moment nicht. Ich würde nicht sagen, dass ich vollkommen
unglücklich bin, aber es gibt so viele Dinge, die ich in meinem
Leben erreichen wollte und die ich immer machen wollte, die ich
niemals gemacht habe. Ich bin zwar ein erfolgreicher Anwalt geworden,
aber irgendwie fühlt es sich so an, als hätte ich nie was erreicht,
als hätte ich nie wirklich Spaß gehabt. Die ganzen Reisen und
Abenteuer, die ich immer machen wollte, haben nie stattgefunden und
dass ist es, was mich unglücklich macht. Außerdem war ich ständig
ganz allein. Das stimmte mich auch nicht gerade fröhlicher.
Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen und habe am nächsten
Morgen auch gleich zwei Stunden länger geschlafen. Da ich zu Hause
arbeiten konnte, stellte ich mir auch nie einen Wecker und hätte
somit fast meinen Termin verschlafen, den ich an diesem Tag hatte.
Nach einem schnellen Frühstück bin ich sofort zu dem Mandanten
gefahren, mit dem ich ein Beratungsgespräch hatte. Das Gespräch
verlief wie geplant und ich konnte schnell wieder nach Hause fahren
und mich wieder der Arbeit an meinem Schreibtisch zuwenden. Ich
machte das Fenster auf, um die heiße Sommerluft herein zu lassen und
setzte mich. In der Mitte des Schreibtisches lag noch der Brief, den
ich am Tag zuvor dort hin gelegt hatte. Es war ein alter Brief, der
schon zerknickt und staubig war und ich hoffte, dass sich darin
nichts Wichtiges befand, das ich vergessen haben könnte. Der
Absender sagte mir jedenfalls nichts.„Anselm Wail“. Ein komischer
Name, der mir allerdings irgendwie bekannt vorkam. Als ich den Brief
öffnen wollte, bemerkte ich, dass er bereits offen war. Und da viel
es mir wieder ein. Anselm Wail, vom hohen Berg! Das war der Brief,
den ich in meiner Jugend von Isa bekommen hatte. Ich nahm ihn raus
und las den Brief einige Male durch und erinnerte mich daran, wie ich
mit Tschik das Auto geklaut hatte und sie auf dem Müllberg kennen
gelernt hatte. Nach all dem seriösen und formellen Kram, den ich
normalerweise den ganzen Tag lang ausfüllen und schreiben musste,
gefiel mir sogar die Anrede „Schwachkopf“, die sie in dem Brief
für mich verwendete. Ich dachte eine ganze Weile über unser
Abenteuer nach, was wir alles erlebt hatten und wie viel Angst und
Spaß ich auf der Reise hatte. Als Anwalt wusste ich natürlich
genau, dass es eine Straftat war, ein Auto zu klauen und dazu noch
ohne Fahrerlaubnis damit zu fahren, aber ich bereute es überhaupt
nicht, dass wir es damals einfach gemacht haben. Ich hatte eine lange
Zeit lang ein schlechtes Gewissen deswegen. Vor allem, weil mein
Vater es mir immer wieder unter die Nase gerieben hat und mir immer
wieder klar gemacht hat, was ich für ein schlechter Sohn sei, aber
damit habe ich abgeschlossen und ich kann im Nachhinein sagen, dass
das eins der besten Erlebnisse in meinem Leben war. In dem Brief
stand das Datum, an dem ich mich damals mit Isa getroffen habe. Ich
war so erstaunt, dass sie wirklich zu dem Treffen gekommen ist. Wir
haben an dem Tag viel gelacht und sie hat mir sogar das Geld wieder
gegeben, dass ich ihr damals ausgeliehen hatte. Am besten kann ich
mich aber noch daran erinnern, wie wir uns geküsst haben. Das war
mein erster richtiger Kuss und ich war so lange in sie verliebt, aber
ich habe sie danach auch nie wieder gesehen. Als ich die ganze Zeit
über meine Jugend nachdachte, fiel mir erst gar nicht auf, dass ich
dabei ein breites Lächeln im Gesicht hatte. Ich war so in Gedanken
versunken, dass ich schon nicht mehr an die Arbeit dachte, die ich
eigendlich verrichten wollte. Nicht einmal das Telefon habe ich
klingeln hören. Ich wollte den Brief schon wieder weglegen, als mir
auffiel, das unten auf das Blatt noch etwas rauf gekritzelt war: Es
war noch ein Datum: „17.Juli 2060 um fünf Uhr nachmittags“ stand
da. Ich wusste zuerst nicht, was das bedeuten soll, aber als ich noch
einmal den Namen auf dem Umschlag sah, wurde es mir so langsam klar.
Tschick, Isa und ich hatten uns auf dem Berg geschworen uns fünfzig
Jahre später wieder an genau der selben Stelle, um genau die selbe
Uhrzeit zu treffen. Daran hatte mich Isa bei unserem letzten Treffen
noch einmal erinnert und das Datum auf meinen Brief geschrieben, den
ich dabei hatte. Plötzlich fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Der
Termin war dieses Jahr und das schon in zwei Wochen. Aber es erschien
mir ziemlich albern, ernsthaft darüber nachzudenken, dort hin zu
fahren. Wir waren damals alle noch Kinder und es ist sehr
unwahrscheinlich, dass einer der Anderen sich überhaupt noch daran
erinnert, geschweige denn vorhat, zum Treffen zu kommen. Also habe
ich den Gedanken, dort hin zu fahren wieder bei Seite geschoben. Ich
legte den Brief bei Seite und wandte mich wieder der Arbeit zu. Die
nächsten Tage verliefen wieder ganz normal, aber ich wurde diesen
Gedanken an den Brief nicht los. Ich musste immer wieder an die
wilden Autofahrten und dieses seltsame Gefühl der Freiheit denken,
das ich dabei hatte. Also beschloss ich einfach mal Urlaub zu machen.
Einfach meine Sachen ins Auto zu schmeißen und los zu fahren. Ganz
so wie früher. Vielleicht doch nicht ganz so wie früher. Das Auto
das ich hatte war kein alter Lada, sondern ein teurer BMW mit
Luxusausstattung und war außerdem nicht geklaut. Zudem hatte ich
einen Führerschein und müsste bei einer Verkehrskontrolle nicht vor
der Polizei flüchten. Der größte Unterschied aber würde sein,
dass ich allein unterwegs wäre. Doch selbst davon wollte ich mich
nicht aufhalten lassen. Ich wollte einfach mal wieder raus aus dem
Alltag, mir andere Städte ansehen und dabei etwas erleben. Die
nächste Woche war für mich sehr stressig. Ich arbeitete so viele
Termine wie möglich ab und reichte meinen Urlaub ein. Da ich so gut
wie nie Urlaub machte, hatte ich noch meinen gesamten Jahresurlaub
übrig. Sogar noch zwei Wochen aus dem letzten Jahr. Ich hatte
beschlossen, den ganzen Urlaub auf einmal zu nehmen. Das hatte sich
natürlich in der Kanzlei rumgesprochen und ich bekam eine Menge
Anrufe, was ich den jetzt mit meinen Mandanten vorhätte und ob bei
mir alles in Ordnung sei. Für die Arbeit hatte ich natürlich gesorgt
und alles abgearbeitet oder weitergeleitet, sodass ich nur einem
Mandanten eine Absage erteilen musste. Ich räumte noch einmal mein
gesamtes Haus auf, sprach auf meinen Anrufbeantworter einen neuen
Text ein, dass ich für mehrere Wochen verreise, sagte beiden
Nachbarn Bescheid und fing an, das Auto vollzuladen. Ich musste aber
zu erst überlegen, was ich alles mitnehmen müsste und bin zu dem
Entschluss gekommen, dass zum Beispiel ein Schlafsack nicht notwendig
sein würde. Auch wenn ich die Reise möglichst ähnlich wie in
meiner Jugend gestalten wollte, hatte ich beschlossen, lieber in
Hotels zu schlafen, als im Auto. Ich würde mich nämlich mit
Sicherheit nicht jugendlicher fühlen, wenn ich im Auto aufwache und
ich meinen Rücken nicht mehr bewegen kann. Wenn man über sechzig
ist, kann man sich dann auch ein Hotel gönnen, dachte ich mir und
packte deshalb, bis auf ein zu großes T-Shirt und eine Zahnbürste,
alle Sachen, die ich für Übernachtungen brauchte wieder aus. Ich
nahm ansonsten auch nicht viel mit. Nur eine Menge Getränke, ein
Buch, ein paar Snacks für zwischendurch und Kleidung zum Wechseln.
Das mit der Kleidung gestaltete sich allerdings schwierig, denn ich
hatte fast nur Anzüge und eine Robe in meinem Kleiderschrank. Also
packte ich meine gesamte restliche Kleidung ein und nahm noch genug
Bargeld mit, um notfalls etwas Neues kaufen zu können. Denn ich
hatte nur zwei Jeans und ein paar T-Shirts, sodass ich bestimmt nach
zehn Tagen fürchterlich stinken müsste, denn unterwegs würde ich
ja nicht waschen können und es war draußen furchtbar heiß. Ich
wollte anfangs auch noch mehr Essen einpacken, hab es dann aber bei
Müsliriegeln, Keksen und ein paar geschmierten Broten belassen, da
ich ohnehin in Hotels essen würde. Sobald alles bereit war,
verriegelte ich das Haus und stellte die Alarmanlage an. Anschließend
klebte ich noch einen Hinweiszettel an den Briefkasten und
verabschiedete mich noch einmal von meinen Nachbarn. Und dann saß
ich auch schon im Auto und fuhr auf der Autobahn Kilometer für
Kilometer. Erst dann fiel mir auf, dass ich eigentlich gar keinen
Plan hatte, wo ich überhaupt hin wollte. Es war auch schon spät
geworden und ich beschloss, dass ich erst mal eine Unterkunft für die
Nacht suchen sollte. Mein Navigationssystem fand schnell ein kleines
Hotel, in dem ich übernachten konnte. Dort angekommen fing ich
sofort an, mir Pläne zu machen, welche Städte ich in welcher
Reihenfolge besuchen wollte. Ich fing an mit Lübeck, dann Hamburg
und arbeitete mich immer weiter in den Süden vor. Als letztes auf
meiner Liste stand München. Damit hatte ich alle Städte in
Deutschland aufgeschrieben, die ich besuchen wollte. Am nächsten
Morgen wachte ich mit furchtbaren Rückenschmerzen auf. Das Bett im
Hotel war zwar immer noch besser, als im Auto zu schlafen, aber
besonders bequem war es trotzdem nicht. Dafür war das Frühstück
umso leckerer und die Bedienung sehr freundlich. Ich durfte mir sogar
noch zwei Brötchen und etwas Obst für die Fahrt mitnehmen. Nach dem
Auschecken fuhr ich erst mal in Richtung Norden, denn mein erstes
Ziel war ja Lübeck. Ich musste aber die ganze Zeit an das Treffen
denken. Denn an jenem Tag war schon der 17.Juli 2060. Ich versuchte
mir die ganze Zeit einzureden, wie albern es wäre, auf einem Berg
auf zwei Leute zu warten, die man so gut wie gar nicht kennt, nur
weil man es sich als Jugendlicher geschworen hatte. Das funktionierte
allerdings nicht lange und an der Grenze zu Schleswig-Holstein
drehte ich dann doch wieder um und fuhr zum Berg. Auf der Autobahn
fuhr ich fast durchgehend 200km/h, weil das Treffen schon um 17:00 Uhr
sein sollte und ich Angst hatte, ich könnte die beiden verpassen,
wenn ich zu spät käme. Um so näher ich dem Berg kam, umso
aufgeregter wurde ich. Denn ich hatte entgegen aller Vernunft eine
immer größer werdende Hoffnung, dass die Freunde aus meiner Jugend
tatsächlich dort auftauchen könnten. Leider lenkten mich diese
Gedanke ziemlich ab und ich bemerkte nicht, dass auf der Strecke eine
zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von nur 120km/h vorgeschrieben
war und ich fuhr einfach mit 200km/weiter. Dass ich so viel zu schnell
war, bemerkte ich erst, als der Wagen vor mir, der um einiges
langsamer fuhr als ich, geblitzt wurde. Sofort machte ich eine
Vollbremsung, um langsamer zu werden. Dabei flog die Wasserflasche,
die ich auf den Rücksitz gelegt hatte nach vorn, knallte gegen die
Scheibe und zersprang in tausend Scherben. Für einige Sekunden war
ich wie betäubt, von dem lauten Knall und den umherfliegenden
Scherben und dem Wasser in meinen Augen. Ich spürte einen leichten
Aufprall und dann war alles still. Als ich wieder richtig sehen
konnte, bemerkte ich, dass ich mit meinem Auto an der Leitplanke
entlang geschliffen war und nun quer auf dem Standstreifen stand. Ich
schaltete also das Warnblinklicht an, stellte das Auto grade auf die
Standspur um den Verkehr nicht zu behindern, zog eine Warnweste an
und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Meine Hände zitterten
immer noch ein wenig, wegen des Schocks. Ich musste von einigen
Glassplittern getroffen worden sein, denn an meiner rechten Hand und
im Gesicht hatte ich jeweils zwei kleine Schnittwunden. Das tat aber
nicht sonderlich weh und ansonsten war ich auch nicht verletzt. Nur
mein Herz raste vor Aufregung. Erleichtert konnte ich feststellen,
dass der Schaden an meinem Auto nicht sehr groß war. Es war an einer
Seite komplett der Lack abgekratz und einige Beulen drin, aber das
Fahrzeug war noch vollkommen verkehrstüchtig. Nach reichlich
Überlegung entschied ich mich, meinen Urlaub fortzusetzen und den
Wagen erst hinterher in die Werkstatt zu bringen. Die Reparatur würde
bei einem so teuren Auto sicher einiges kosten, aber ich hatte zur
Zeit absolut keine Geldprobleme und auch kein Problem damit, mit
einem verbeulten Auto durch die Gegend zu fahren. Also begann ich so
viele Glasscherben wie möglich aus dem Wagen zu sammeln, damit ich
bald weiter fahren konnte. Ich überlegte erst noch, ob ich wegen des
Unfalls nicht vielleicht die Polizei rufen sollte, habe mich dann aber
dagegen entschieden, weil kein anderes Auto daran beteiligt war und
ich mich nicht noch unnötig lange mit der Aufnahme meiner
Personalien und der Beschreibung des Unfallhergangs beschäftigen
wollte. Außerdem musste die Polizei ja nicht unbedingt wissen, dass
ich zu schnell gefahren war und meine Ladung im Auto nicht
ausreichend gesichert habe. Als ich fast alle Scherben aus dem Auto
gesammelt hatte, hielt hinter meinem Fahrzeug ein weiteres Auto und
ein Mann stieg aus. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ fragte er
mich. „Sind Sie verletzt?“ „Nein. Alles bestens,“ sagte ich.
„Nur ein paar Lackschäden am Wagen. Sie können ruhig weiter
fahren.“Der Mann begutachtete meine Schnitte im Gesicht und wollte
grade etwas dazu sagen, da stieg auch die Frau aus dem Auto, mit dem
er gekommen war und rannte auf mich zu. „Oh mein Gott! Sie sind
verletzt!“ rief sie. „Das müssen wir sofort verbinden. Oder soll
ich lieber einen Krankenwagen rufen?“ Ohne auf eine Antwort zu
warten, rannte sie zum Kofferraum ihres Autos und holte den
Verbandskasten raus. Als sie wieder bei mir angekommen war, fing sie
sofort an, sich alle Verbände anzusehen und fragte den Mann, welcher
wohl der beste sei. „Ich glaube so etwas ist gar nicht nötig“,
entgegnete der Mann. „Ein paar Pflaster sollten da auch
reichen.“Die Frau sah ihn kurz an, dann sah sie mich an und ging
mit dem Verbandskasten wieder zum Kofferraum. Diesmal kam sie mit
einer Packung Kinderpflaster zurück. Ohne mich zu fragen, fing sie
an mein Gesicht mit Piraten- und Prinzessinenpflastern zu bekleben.
Dann klebte sie noch eins mit Einhörnern auf meine Hand und sah mich
besorgt an. „Sind Sie sonst noch irgendwo verletzt? Ist Ihnen
vielleicht schwindelig?“ „Nein, mir geht es gut! Das wäre
wirklich nicht nötig gewesen. Vielen Dank für ihre Hilfe, aber ich
muss jetzt auch weiter.“ sagte ich und musste mich bemühen, dabei
das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. „Also nein! Das geht
jetzt wirklich nicht. Nach einem Autounfall können sie doch nicht
einfach weiter fahren.“ entgegnete die Frau und hörte sich dabei
langsam immer hysterischer an. „Ich finde auch, dass sie sich erst
mal untersuchen lassen sollten, bevor sie weiter fahren.“ mischte
sich jetzt auch wieder der Mann ein. Und dann folgte eine lange
Diskussion , darüber, ob sie mich weiter lassen können, oder nicht.
Am Ende sind wir zu dem Kompromiss gekommen, dass der Mann eine Art
Untersuchung mit mir durchführen durfte, um zu überprüfen, ob es
mir auch wirklich gut geht. Ich musste also auf einer geraden Linie
laufen, mich auf ein Bein stellen und mit meinem Zeigefinger meine
Nasenspitze berühren. Solche Tests machte man für gewöhnlich mit
Leuten um festzustellen, ob sie alkoholisiert sind. Ich hatte keine
Ahnung, was das damit zu tun haben soll, meine Verkehrstüchtigkeit
zu überprüfen, aber ich machte alle Aufgaben wiederstandslos mit,
um einer noch längeren Diskussion zu entgehen. Nachdem mich der Mann
für gesund befunden hat, verabschiedete er sich und meinte, dass ich
jetzt fahren könne. Die Frau sah nicht sehr überzeugt aus,
beschwerte sich aber nicht weiter und beide gingen zurück zu ihrem
Auto. Ich bedankte mich bei den beiden für ihre Fürsorglichkeit und
setzte meine Fahrt endlich fort. Es war jetzt nicht mehr weit bis zu
dem Berg auf dem wir uns treffen wollten und ich war, trotz des
Zwischenfalls, eine halbe Stunde zu früh oben an dem Kreuz. Da ich
noch Zeit hatte und von dem Unfall und der ganzen Diskussion
erschöpft war, holte ich mir das Obst und die Kekse aus dem Wagen
und machte ein kleines Picknick. Immer wieder kamen Leute vorbei und
sahen mich komisch an, als wäre ich ein Irrer oder so. Als ich mein
Spiegelbild in einer Pfütze sah, wusste ich auch warum. Ich hatte
währen der Aufregung ganz vergessen, dass mir immer noch die bunten
Kinderpflaster im Gesicht klebten. Damit sah ich absolut lächerlich
aus und ich zog sie mir sofort wieder ab. Die Kratzer in meinem
Gesicht bluteten nicht einmal. Sie wahren nur ganz klein und vielen
deutlich weniger auf, als die Pflaster. Der eine Schnitt an meiner
Hand war allerdings etwas tiefer und brannte ein wenig. Das viel mir
auch erst jetzt auf, da ich zuvor viel zu aufgeregt gewesen war, um
den Schmerz zu bemerken. Ich ging also wieder zum Auto und klebte ein
normales Pflaster darauf. Den Rest der Zeit verbrachte ich wartend
vor dem Kreuz und aß dabei halb geschmolzene Schokokekse. Ich
wartete über eine Stunde lang und um so länger ich wartete, umso
alberner kam ich mir vor, dass ich wirklich geglaubt hatte, die beiden
würden zum Treffen erscheinen. Irgendwann gab ich die Hoffnung auf
und packte enttäuscht das restliche Essen wieder ins Auto. Ich
wollte mich schon wieder in den Wagen setzten, da sah ich eine
bekannte Gestalt den Berg hochstapfen. Es war Tschick. Ich erkannte
ihn sofort. Er sah immer noch genauso aus wie vor 50 Jahren. Er hatte
damals noch nicht so viele Falten und keinen Bart im Gesicht, aber
alles andere war noch genauso. Die Narbe am Unterarm, die hohen
Wangenknochen und die unverwechselbaren Schlitzaugen. Es gab
überhaupt keinen Zweifel, dass dies der Mann war, mit dem ich in
meiner Jugend so ziemlich die besten Tage meines Lebens verbracht
habe. Sofort überkam mich ein Gefühl der Freude. Ich hätte nicht
gedacht, dass ich ihn je wieder sehen würde. Und jetzt stand er da
einfach vor mir, als wäre es das Normalste der Welt. Ich war mir
nicht sicher, wie ich ihn begrüßen sollte. Ich kannte ihn ja
eigentlich gar nicht. Ich wollte ihm grade die Hand geben, da fiel er
mir auch schon freudestrahlend um den Hals. „Mann. Ich hätte nicht
gedacht, dass du wirklich kommst.“ sagte er. „Dachte ich von dir
auch nicht,“entgegnete ich. „Was ist passiert?“ Fragte Tschick
und deutete auf die Kratzer in meinem Gesicht und auf meiner Hand. Ich
wollte ihn nicht die Geschichte erzählen, wie ich zu schnell
gefahren war und dass die Schnitte von einer kaputten Wasserflasche
stammten. Deshalb sagte ich einfach nur:“Autounfall.“
„Autounfall? Das ist ja typisch für dich,“ sagte er und lachte.
Ich wusste zuerst gar nicht was daran so lustig sein sollte, aber ich
musste zugeben, dass ich es dann auch irgendwie lustig fand. Tschick
und ich kannten uns ja schließlich mit Autounfällen aus. „Hast du
denn mittlerweile einen Führerschein?“, fragte er. „Ja.
Natürlich,“ antwortete ich. „Geile Karre,“ unterbrach mich
Tschick und ging zu meinem Auto. „Ist das deiner?“ Fragte er.
„Sieht gar nicht nach Unfall aus.“ „Ja. Das ist mein Auto.“,
Sagte ich. „Der Schaden ist auf der anderen Seite.“ „Und der
Wagen ist auch nicht geklaut?“, fragte er scherzhaft und zwinkerte
mir dabei zu. Er ging um den Wagen herum, um den Schaden zu
begutachten. „ Sind doch nur ein paar Kratzer. Ich habʼn Kumpel.
Der beult dir das fürʼn Fünfziger locker wieder aus.“ „Nein
danke!“ antwortete ich. „Ich bring den Wagen lieber in die
Werkstatt.“ „Wie du meinst.“, sagte er und zuckte mit den
Schultern. „ Eigentlich musst du überhaupt nichts daran machen
lassen. Sieht zwar dann ein bisschen scheiße aus, aber solange die
Karre läuft ist das ja egal. Als ich mal vor den Bullen geflohen
bin, hatte ich sogar ein Auto, dass hatte nur drei Räder.“ Tschick
lachte. „Das war lustig“ ,sagte er. Ich war davon schockiert,
dass er mir grade total ruhig erzählte, dass er vor der Polizei
geflohen sei. Ich wollte ihn fragen, aus welchen Grund er verfolgt
wurde, traute mich aber nicht, aus Angst, ich würde in eine Straftat
mit einbezogen werden. Er hatte schon als Jugendlicher eine gewisse
Neigung dazu, vor kriminellen Aktionen nicht zurück zu schrecken.
Wenn er diese Neigung als Erwachsener nicht abgelegt hat, war er
vielleicht inzwischen ein Bankräuber oder so etwas. Ich fühlte mich
extrem unwohl bei dem Gedanken, dass ich mich vielleicht mit einem
Kriminellen unterhalten könnte, der von der Polizei gesucht wird.
Zudem fand ich es irgendwie seltsam, wie er sprach. Er hatte immer
noch den gleichen schrecklichen Sprachstiel wie früher. Das hatte
mich damals nicht gestört, aber jetzt störte es mich. Er hörte
sich ein bisschen so an, als hätte er sich in den letzten fünfzig
Jahren kein Stück weitergebildet. Seine Stimme war nicht nur viel
tiefer geworden, er hatte jetzt auch einen starken russischen Akzent.
Ich konnte einfach nicht einschätzen, was ich von ihm halten sollte.
Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich so vorschnell über ihn
geurteilt hatte. Als ich Tschick das erste mal gesehen habe, hatte
ich auch einen schlechten Eindruck und wir sind trotzdem Freunde
geworden. Vielleicht macht er auch jetzt nur einen schlechten
Eindruck und ist in Wirklichkeit total nett. Und ich wusste ja
selber, dass die Idee, er könnte ein Bankräuber sein, total
bescheuert ist. Denn wenn er einer wäre, hätte er bestimmt genug
Geld und müsste nicht in diesen zerlumpten Klamotten herumlaufen,
die er trug. So wie er aussah, könnte er eher ein Obdachloser sein,
anstatt einem Bankräuber. Aber diese Gedanken waren alle nur
Spekulationen. Tschick war schließlich mein Freund. Ich konnte ihn
ja auch einfach fragen. Aber er kam mir zuvor. „Was hast du
eigentlich so gemacht?“ fragte er. „Also die letzten fünfzig
Jahre meine ich.“ Ich wusste gar nicht wo ich anfangen sollte. Die
letzten fünfzig Jahre wahren ja fast mein ganzes Leben. Also fing
ich an dem Zeitpunkt an, von dem an Tschick mich nicht mehr gesehen
hatte. Ich erzählte ihm, wie ich meinen Abschluss machte, wie ich
mit Tatjana zusammen gekommen war, von unserer Hochzeit, meinen
Studium, wie ich Anwalt geworden war und von unserer Scheidung. Ich
erzählte ihm einfach alles aus meinem Leben. Sogar, wie ich jetzt
lebte, dass ich mich allein fühlte und was ich so bei meiner Arbeit
machte. Aber umso länger ich über mein Leben redete, umso mehr
wurde mir klar, dass ich in meinem Leben wirklich nichts Besonderes
hatte. Ich hatte nie etwas aufregendes gemacht, oder erlebt. Sogar
meine Arbeit war langweilig. Immer nur Papierkram und Diskussionen.
Ich war allein und langweilig. Tschick sah mich während der ganzen
Geschichte mit ausdrucksloser Miene an. Wahrscheinlich war ich der
langweiligste Typ, den er je kennen gelernt hat. Und dafür ist er
extra, was weiß ich von wo, hier her gekommen. „Du bist ja ein
richtiger Spießer geworden.“ sagte er grinsend als ich fertig war
und klopfte mir dabei auf den Rücken. „Ja, Kann schon sein,“ gab
ich zu. „Und wie war es bei dir in den letzten fünfzig Jahren?“
„Also das war so...“ begann er. Und was ich da zu hören bekam
war die unglaublichste und traurigste Geschickte, die ich jemals
gehört hatte. Ich wusste, dass in Russland vor einigen Jahren ein
Krieg ausgebrochen war und hörte in den Nachrichten immer wieder,
dass es viele Opfer gab und dass sich die Lage dort immer weiter
verschlimmert. Aber ich wusste nicht, dass Tschick dabei gewesen war.
Er erzählte mir, dass er, kurz nachdem wir uns nicht mehr sehen
durften, zu seiner Familie nach Russland gebracht wurde, und dort gut
gelebt hatte, das er dort seinen Schulabschluss gemacht hat, als Koch
gearbeitet hat und sogar sein eigenes Restaurant aufmachen konnte. Er
erzählte mir, dass er gespart hat und sich ein eigenes Haus gekauft
hat. Er sagt immer wieder, wie schön diese Zeit war. Als es zum
Krieg kam, versuchte er mit seiner Familie zu flüchten, berichtete
Tschick. Allerdings wurden sie gefangen genommen und festgehalten. Er
erzählte mir, wie er mit seinem Lebensgefährte versucht hat, von
dort zu fliehen und wie dieser dabei getötet wurde. Allmählich
bekam Tschick Tränen in den Augen, aber er hörte nicht auf zu
erzählen. Er beschrieb mir, wie er entkommen konnte und seine
Familie zurück lassen musste. Ich hoffte die ganze Zeit, dass seine
Geschichte irgend eine Wendung zum Guten nehmen würde, oder
wenigstens bald zu Ende sein würde, aber er erzählte einfach immer
weiter. Davon, dass er die ganze Zeit auf der Flucht war, um nicht
noch einmal gefangen genommen zu werden. Und dass sein Haus mit
seinem gesamten Besitz zerstört wurde und ihm keine andere Wahl mehr
geblieben war als, wieder nach Deutschland zu gehen. Tschick
erzählte, dass er den ganzen Weg bis nach Deutschland zu Fuß
gegangen sei und unterwegs fast verdurstet und erfroren wäre. Als er
mit seiner Geschichte endlich fertig war, sah er mich eindringlich an
und sagte: „Weißt du, ich hab das außer dir noch Niemandem
erzählt.“ Das hatte ich mir schon gedacht. Wem hätte er diese
Geschichte auch schon erzählen sollen? Er war ja die ganze Zeit auf
der Flucht. Ich war mir zuerst aber nicht sicher, ob ich ihm Glauben
schenken sollte, denn Tschick wirkte die ganze Zeit über abwesend
und verwirrt, als wüsste er gar nicht so genau wovon er eigentlich
redet. Seinem Aussehen nach zu urteilen war seine Geschichte
allerdings war, denn er wirkte tatsächlich so, als hätte er seit
Monaten nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen oder eine warme
Mahlzeit zu sich genommen. Im Grunde war es ja auch völlig egal, ob
ich ihm die Geschichte glaubte oder nicht, denn er glaubte offenbar
jedes Wort, dass er mir erzählte und ich hatte großes Mitleid mit
ihm und seiner Familie und all den anderen Menschen dort, die einfach
nur friedlich leben wollten. Und plötzlich kam mir mein eigenes
einsames Leben tatsächlich viel besser vor. Er beneidete mich
bestimmt um meine langweilige Arbeit und meine Abende allein vor dem
Fernseher. Ich fand es nur seltsam, dass Tschick währen seiner
Geschichte die ganze Zeit zu tieftst betrübt aussah und als er
geendet hatte wieder lächelte und fröhlich wirkte. „Das ist jetzt
zum Glück vorbei.“ Sagte Tschick. „Jetzt gibtʼs nur noch dich
und mich. Ganz wie in alten Zeiten.“ Ich musste zugeben, dass ich
mich über seinen Enthusiasmus freute, auch, wenn er mich sehr
verwunderte. Da Tschick mir leid tat und offensichtlich noch
dringender einen Freund brauchte, als ich, fragte ich ihn, ob er
nicht Lust hätte bei meiner Urlaubsreise mitzukommen. „Meinst du
das Ernst?“ Fragte er und sah mich überrascht an. Ich versicherte
ihm, dass es mein Ernst sei und erklärte, dass es zu zweit bestimmt
mehr Spaß machen würde. „Mann. Du nimmst das mit den alten Zeiten
ja ganz schön ernst.“ sagte Tschick und lachte. „Aber wenn es
für dich wirklich in Ordnung ist, bin ich natürlich dabei.“ Damit
war die Sache beschlossen. Auch wenn ich es etwas seltsam fand, dass
er die ganze Zeit so übertrieben fröhlich war, freute ich mich,
dass ich nicht allein unterwegs sein würde. Aber ich konnte ihn auch
verstehen. An seiner Stelle würde ich auch versuchen einiges zu
vergessen. Und ich würde ihm natürlich dabei helfen, indem ich ihn
mitnahm. Ich erklärte ihm, wo ich überall hinwollte und wo wir am
besten lang fahren würden. Tschick war allerdings der Meinung, dass
wir gar keinen Plan bräuchten. Er sagte, dass wir als Jugendliche
auch keinen Plan gehabt hätten und es trotzdem Spaß gemacht hätte.
Und da musste ich ihm Recht geben und wir beschlossen meinen Plan zu
vergessen und einfach drauf los zu fahren, quer durch Deutschland.
Ich schlug vor, dass wir einfach in den Städten hielten, die uns
gefielen und das fand er auch gut. Es war langsam schon dunkel und
wir setzten uns ins Auto, weil es zu regnen begonnen hatte. „Wollte
das Mädchen nicht auch kommen?“ fragte Tschick, nachdem er
gewaltsam die verbeulte Beifahrertür geöffnet hatte. „Vielleicht
hat sie es vergessen,“ antwortete ich. „Ich wurde auch nur durch
einen Zufall daran erinnert,“ fügte ich hinzu. In der ganzen Zeit
in der wir über unsere Vergangenheit geredet hatten, habe ich ich
total vergessen, dass Isa auch zum Treffen kommen wollte, aber jetzt
wo Tschick es ansprach, fand ich es schade, dass sie nicht
erschienen war. Aber ich war trotzdem sehr froh, dass ich hin
gefahren war, denn an sonsten hätte ich meinen alten Freund nicht
wieder getroffen und wir wären beide allein unterwegs. An dem Abend
unterhielten Tschick und ich uns noch sehr lange über unser kleines
Abenteuer in unserer Jugend und alle möglichen anderen Themen. Ich
bemerkte dabei, das wir beide uns in vielen Punkten ähnlich waren.
Nicht nur in denen, dass wir beide weder Familie noch Freunde hatten.
Ich fand ihn dabei immer sympathischer und wir saßen, bis es Nacht
wurde im Auto. Er aß dabei mein gesamtes Essen auf, dass ich
verstaut hatte. Ich hatte noch nie jemanden so schnell essen sehen.
Tschick musste extremen Hunger gehabt haben und ich fragte mich, wann
er wohl das letzte mal etwas gegessen haben könnte, traute mich aber
nicht ihn zu fragen, weil ich vermutete, das Tschick an einer Art
Schizophrenie litt, denn jedes mal, wenn er über seine Vergangenheit
in Russland sprach, war er ein trauriger, alter Mann, der verstört
und verängstigt wirkte. Aber wenn wir über etwas anderes redeten,
hatte ich eine viel zu fröhliche Version des vierzehnjährigen
durchgeknallten Jungen vor mir, mit dem ich ein Auto geklaut hatte
und versucht hatte, in die Walachei zu kommen. Ich wusste nicht so
ganz, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Aber da ich den
fröhlichen verrückten Jungen lieber mochte, als den verängstigten
alten Mann, versuchte ich nicht mehr über seine Vergangenheit zu
sprechen. Das funktioniert auch gut und wir redeten fast die ganze
Zeit über unsere verrückte Fahrt. Tschick erzählte grade davon,
wie die dicke Frau ihm damals den Feuerlöscher auf den Fuß geworfen
hatte und musste lachen, so dass ihm die Weintraube, die er grade im
Mund hatte, im Hals stecken blieb und er einen fürchterlichen
Hustenanfall bekam. Er hustete fast zwei Minuten lang, bis die
Weintraube im Hohen bogen zum offenen Fenster raus flog. Direkt in
das Gesicht einer Frau, die dort stand. Die Frau kam zum Auto uns sah
verärgert zu uns hinein. Ich wusste genau, dass ich diese Frau noch
nie zuvor gesehen hatte, aber sie sah irgendwie seltsam vertraut aus.
Sie hatte blondes Haar, hatte ein hübsches Gesicht und war jung.
Ende zwanzig würde ich schätzen. Und so wie sie jetzt da stand und
finster zu uns in den Wagen blickte, kam sie mir unglaublich bekannt
vor. Aber ich konnte mir einfach nicht erklären warum. Normalerweise
vergaß ich nie ein Gesicht und wenn wir uns kennen würden, wüsste
ich auch ihren Namen. Deshalb überraschte es mich umso mehr, als sie
fragte: „Heißt einer von euch beiden Maik Klinkeburg oder so?“
„Es heißt Klingeberg,“ korrigierte ich sie. „Kennen wir uns?“ „Noch
nicht.“ Sagte die Frau. „Ich heiße Lara Schmidt. Und du bist
dann bestimmt Tschick, oder? Fragte sie und sah ihn erwartungsvoll
an. „Wow. So wurde ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt,“
keuchte Tschick, der nach seiner Hustenattacke gerade erst wieder zu
Atem gekommen war. „Woher weißt du, wer wir sind?“ Fragte ich
die Frau. „Meine Mutter, Isa Schmidt, schickt mich. Sie hat gesagt,
dass ich euch hier finden würde,“ sagte sie. „Ich bin schon seit
Stunden auf der Suche nach euch beiden. Ich dachte schon, dass ich
euch gar nicht mehr finden würde,“ erklärte sie. Diese Frau war
also Isas Tochter. Deshalb kam sie mir so bekannt vor. Sie sah
genauso aus wie Isa damals. Nur ein wenig älter. „Und warum
schickt deine Mutter dich hierher und kommt nicht selbst?“ Wollte
Tschick von ihr wissen. Und sprach damit aus, was ich mir gerade
dachte. Sie sah betrübt zu Boden. „Sie ist tot,“murmelte sie.
„Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzten,“
entschuldigte sich Tschick und sah sie mitfühlen an. Die Nachricht
von Isas Tod traf mich wie ein Schlag. Sie war das Mädchen, in das
ich lange heimlich verliebt war, das Mädchen, das mich immer
Schwachkopf genannt hat und mich trotzdem küssen wollte. Obwohl ich
sie eigentlich gar nicht gekannte habe, stiegen mir Tränen in die
Augen und ich musste an den Tag zurück denken, an dem ich sie das
letzte mal sah. Sie hatte mich auf den Boden geworfen und dann
ausgelacht, weil ich mit dieser Überraschungsattacke nicht gerechnet
hatte. Wir haben damals den ganzen Tag gelacht, spielerisch mit
einander gerungen und sie hat mich fast durchgehend beleidigt. Aber
vor allem konnte ich mich ganz genau an den Moment erinnern, als ich
von ihr meinen ersten Kuss bekam. Und jetzt war es sicher, dass ich
sie niemals wieder sehen würde. Ich wollte mir meine Trauer nicht
anmerken lassen und versuchte deshalb das Thema zu wechseln. „Willst
du nicht einsteigen?“ Fragte ich Lara. „Ich kann dich nach Hause
fahren, wenn du willst.“ Sie stieg zwar ein, sah mich aber verwirrt
an. „Warum nach Hause fahren?“ fragte Lara. „Ich hab euch doch
gerade erst gefunden. Meine Mutter hat mir immer davon erzählt, wie
sie euch kennen gelernt hat und dass sie am heutigen Datum unbedingt
wieder hier her kommen muss, um euch wieder zu sehen. Als sie dann
krank wurde, hat sie mich gebeten, für sie her zu kommen,“
erklärte sie. „Außerdem habe ich im Moment nicht wirklich ein
richtiges zu Hause,“ gab sie zu. „Als meine Mutter gestorben ist,
konnte ich die Miete nicht mehr bezahlen und wurde aus unserer
Wohnung geworfen. Jetzt schlafe ich einfach bei Freunden, bis ich was
neues gefunden habe,“ gestand sie und es war ihr anzusehen, dass es
ihr unangenehm war. „Warum gehst du nicht einfach zu deinem Vater?“
Fragte ich Lara und wollte die Frage am liebsten sofort wieder zurück
nehmen, denn auf die Idee wäre sie sicher selber schon gekommen,
wenn sie keinen Grund hätte, der dagegen sprach.“ Den Kenne ich
nicht,“ antwortete sie ungerührt.„Klasse! Dann kannst du ja
mitkommen,“ rief Tschick begeistert und fiel ihr dabei ins Wort.
Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er so unhöflich war, denn
es war ganz offensichtlich, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte und
er manchmal nicht einmal wusste, wovon er redete. Ich saß aber auch
schon seid Stunden mit ihm im Auto und hatte mich daran gewöhnt.
Eigentlich musste ich sogar zugeben, dass das die Gespräche mit ihm
irgendwie interessanter machte. Aber Lara wusste das nicht. Und sah
ihn verwirrt und verärgert an. „Was soll Klasse sein?“ Fragte
sie wütend. „Das ich aus meiner Wohnung geworfen wurde?“ Ich
versuchte ihr zu möglichst leise zu erklären, dass Tschick es nicht
so gemeint hätte, was er alles durchmachen musste und das er jetzt
nicht mehr so richtig alle Tassen im Schrank hätte. Das ich dabei
leise sprach war im Grunde genommen vollkommen unnötig, denn Tschick
war auf dem Beifahrer Sitz eingeschlafen. Lara nickte immer noch
leicht verwirrt und fragte wieder in normaler Lautstärke, wohin sie
denn mitkommen sollte. Davon wachte Tschick dann wieder aus seinem
kurzen Nickerchen auf und sagte:“Keine Ahnung. Einfach losfahren.
Zu dritt ist lustiger.“ Sie sah mich fragend an und ich nickte nur.
„Also wenn das so ist, bin ich dabei.“Sagte sie mit ehrlicher
Begeisterung. Ich war von ihrer Antwort sehr überrascht und auch ein
wenig verärgert, denn es war ja schließlich mein Auto und ich wurde
nicht einmal gefragt. Aber ich wusste auch keinen Grund, warum sie
nicht mitkommen sollte und entschied mich daher sie mitzunehmen. Die
erste Nacht verbrachten wir auf dem Berg im Auto, da ich zu müde zum
fahren war und nachts ohnehin nicht gut sehen konnte. Am nächsten
Morgen fuhren wir zu einer Tankstelle, um Frühstück zu kaufen und
ich konnte erleichtert feststellen, dass mein Rücken nach der Nacht
im Auto auch nicht mehr wehtat, als nach meiner Nacht im Hotel.
Nachdem wir gefrühstückt hatten, ging es direkt auf die Autobahn
und unsere gemeinsame Reise hatte begonnen. Und das waren dann also
die Menschen mit denen ich meinen Urlaub verbringen sollte: Eine
Obdachlose Frau, die ihre Mutter verloren hatte und ein alter Mann
der ein Flüchtling war und zudem noch eine Gespaltene Persönlichkeit
hatte. Ich war mir sicher, dass diese Fahrt unmöglich ohne
Komplikationen verlaufen würde, aber wenn ich genauer nachdachte,
war es genau dass, was ich immer wollte. Nicht zu wissen, was
passieren würde, einfach losfahren ins Unbekannte. Und eins war
sicher. Das würde eine Reise werden, die keiner von uns so schnell
vergisst...
Von Maren Wilken
Von Maren Wilken
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